Thomas Brussigs Wenderoman "Helden wie wir" – als Monodrama im Berliner Deutschen Theater
Zugegeben, wir hatten das Gerücht, die Öffnung der Mauer sei der letzte und größte Coup der Stasi gewesen, immer für einen Scherz gehalten. Obwohl natürlich einiges dafür sprach: Die Aktion war zweifellos wohlvorbereitet - und kam doch völlig überraschend; sie sollte mit einem Schlag dafür sorgen, daß sämtliche Systemfeinde freiwillig das Land verlassen und mit ihrer notorischen Unzuverlässigkeit statt dessen die BRD destabilisieren. Gleich zwei Fliegen mit einer Klappe also. Es hätte auch beinahe geklappt. Erst als sich herausstellte, daß fast die gesamte DDR von Systemfeinden besiedelt war und weite Landstriche von Mecklenburg bis Thüringen zu entvölkern drohten, blieb kein anderer Ausweg als die Wiedervereinigung. Womit sich die DDR zwar selbst erledigte, aber die Stasi noch in ihrem Untergang die bislang größte innenpolitische Krise der Bundesrepublik auslösen konnte. Also doch kein Scherz? Seit Thomas Brussigs Wenderoman wissen wir es genau: Der Scherz ist die bittere Wahrheit.
Denn der Mann im Hintergrund, dem wir die turbulenten politischen Ereignisse der letzten sieben Jahre verdanken, gehörte zur Nachwuchselite des östlichen Deutschlands, zierte schon in jüngsten Jahren die Titelblätter so ehrgeiziger Zeitschriften wie der "Neuen Berliner Illustrierten" und der "Trommel" (Zeitung für Thälmann-Pioniere), und er hätte es bei der Stasi noch weit gebracht, wenn nicht schon durch seinen ersten großen konspirativen Erfolg das Ende der Geschichte besiegelt worden wäre. Er heißt Klaus Uhltzscht, ein Name, in dem sich eulenspiegelhaft der stolze Uljanow mit einem Beiklang chronischen Sodbrennens verbindet. Schon früh stellten seine Eltern, ein höherer Stasi-Beamter und eine Lichtenberger Hygiene-Inspektorin, nur die allerhöchsten Ansprüche an ihren Sprößling. Die Überforderung im moralischen Reinheitshaushalt löste bei Klein-Klaus zunächst schlimme Inferioritätsgefühle aus, bis der "Totalversager, Toilettenverstopfer, Sachenverlierer, Totensonntagsfick und begeisterter Onanist mit legendär kleinem Pimmel und vier Bibliotheksausweisen" aus seiner tiefen Erniedrigung die Kraft für seinen Triumph schöpft, einen unbedingten Aufstiegswillen, der schließlich in das Aufstoßen der Mauer mit seinem übermenschlich angewachsenen Glied mündet. Jenem Ereignis gedenkt die dank Klaus Uhltzscht vereinte Nation mittlerweise als Feiertag.
Das Erfolgsbuch zur deutschen Wende, Brussigs Verlag
"Volk und Welt" druckt inzwischen die neunte Auflage des Bildungs- und Schelmenromans, betrachtet noch einmal das letzte Jahrzehnt der DDR bis zu ihrem ruhmlosen Verschwinden. Er wählt die Perspektive von einem, dem gar nichts anderes übrigblieb, als dabeigewesen zu sein. Hineingeboren in einen perfekten Spießerhaushalt der zermürbendsten Sorte, von zwei schraubstocksensiblen Elternteilen sexuell eingeklemmt bis zur Geschlechtslosigkeit, als ehrgeiziger Mustermuttersohn frühestmöglich vergreist, mündet Kleinkläuschens schnelle Karriere folgerichtig wie Papa bei der Stasi, als Möchtegernagent und ausübender Volltrottel des Spitzelgewerbes, der vollendet, woran sein großer Vorgänger Tallhover noch gescheitert war.
Der Ewige Deutsche: ein notorischer Spitzel
Denn 1986, fast genau zehn Jahre vor Brussig, hatte Hans Joachim Schädlich nämlich seine Version des deutschen Agentenromans vorgestellt, ein Portrait des perfekten Spitzels, Vor- und Gegenbild zu Uhltzscht. Dieser Tallhover, der ewige Polizeiagent mit dem scheinbar ewigen Leben, diente mit gleichbleibender Begeisterung Preußens König, Deutschlands Kaiser, Hitlers Gestapo und schließlich Ulbrichts DDR. Das heißt, genaugenommen diente er keinem davon, sondern immer nur der "Sache", der Idee des reinen, ordnenden Staates: "Die Sache ist immer die Sache. Die Sache ist immer dieselbe Sache. Dazu bin ich da. Mein ganzes Leben lang." Die Sache ist für Tallhover immer gut ausgegangen, denn eine zuverlässige politische Polizei braucht jeder überlebensfähige totalitäre Staat, erst in der DDR wird der Aufklärungsprofi scheitern.
Als der 17. Juni heraufzieht, plädiert Tallhover besorgt für seine Art der politischen Lösung und fühlt sich erst beruhigt, als er von den Panzern und Erschießungen hört. "Aber Genosse Tallhover, das sind auch Menschen. Auch nur, sagt Tallhover." Bald darauf wird er entlassen, weil er nicht verstehen will, daß man "die Sache" in der DDR nicht nur mit Professionalität, sondern mit - wenn auch verlogener - Überzeugung zu betreiben hat. Denn die DDR gehörte zur ersten (und wahrscheinlich letzten) Generation Polizeistaat, die sich den Luxus eines guten ideologischen Gewissens leisten wollte. Das hat Tallhover nicht überlebt. Die DDR zweieinhalb Jahrzehnte später ebenfalls nicht.
Zwischen dem Scheitern des legendären Perfektionsagenten Tallhover und dem folgerichtigen Triumph des Stasi-Oberdilettanten Uhltzscht liegt die Honecker-Republik, die Lehr- und Jugendjahre des Klaus Brussig. Für einen angehenden Schriftsteller muß es eine schwierige Zeit gewesen sein. Die inneren Widersprüche der DDR hat bereits die Autorengenerationen vor ihm scharfsinnig aufgezeichnet, deren Unterschiede erschöpften sich zuletzt vor allein im Wohnort: Die einen sind gegangen (worden) wie Biermann, Kunert, Schädlich; die anderen sind geblieben wie Christa Wolf; Heiner Müller hat seine spezifische Dialektik des Hin- und Herreisens entwickelt. Einer wie Brussig,
geboren 1965, durfte nicht einmal reisen, und den Rest hatten die anderen schon gesagt. Im übrigen stellte sich "die Sache" für seine Generation weniger dramatisch dar als für die Älteren. Wer zur Wende Mitte Zwanzig war, für den konnten noch keine großartigen Lebensentwürfe scheitern, umfangreichere Illusionen zerbrechen, der hatte höchstens eine - siehe Uhltzscht - mehr oder weniger groteske Pubertät überwunden.
Helden wie wir: Schubert, Dehler, Brussig...
Auch Götz Schubert schien 1990, im letzten Jahr der DDR, nicht wie einer, dem ein Mühlrad von der Brust gerollt oder der Sinn des Lebens geraubt worden wäre. Zwei Jahre älter als Brussig, hatte er 1990 gerade seine ersten beiden Spielzeiten am Berliner Maxim-Gorki-Theater hinter sich, war mit Frau und zweijährigem Kind durchaus zufrieden in einen Hellersdorfer Plattenbau gezogen und stolzer Besitzer eines nagelneuen Fiat Panda. Im zweiten Studienjahr an der Berliner Schauspielschule durfte er einmal in den Westen reisen, nach Dortmund: "Für Klein-Götz-Schubert aus Pirna bei Dresden - tiefste sächsische Provinz, da gibt's nicht mal Westfernsehen - ein großer Moment. Kann man nicht mit Worten beschreiben." Aufgeführt wurde damals ein Ernst-Thälmann-Programm als Beitrag zu einem Jugendfestival. FDJ-Chef Aurich hatte es persönlich abgenommen. Die "Trommel" läßt grüßen. Auf die Idee abzuhauen, sei er gar nicht gekommen, sagte Schubert damals, weil er nicht gewußt hätte, wo hingehen in der fremden Umgebung. So ähnlich hätte das Klaus Uhltzscht auch sagen können.
Mit Schubert in der Heldenrolle - er ist inzwischen, altbewährte DDR-Karriere, ans Deutsche Theater gewechselt -machte sich der ebenfalls gleichaltrige Regisseur Peter Dehler in den Kammerspielen des Deutschen Theaters an die Dramatisierung und Inszenierung des unglaublichen Klaus Uhltzscht. Der ehemalige Elektriker und Rocksänger Dehler verfügt inzwischen über beste einschlägige Referenzen: Er durfte kürzlich im Schweriner Theater die Feierlichkeiten zum 47. Jahrestag der DDR ausrichten (vgl. TH 5/96). Jetzt seine bislang größte Herausforderung, die Aufführung der "denkbar peinlichsten DDR-Biographie", so Autor Brussig.
Schon das Kostüm ist eine Zumutung, die bei jedem Benutzer bleibende Schäden verursachen muß: ein undefinierbar dunkelgraubraungrüner Anzug mit dazu passendem ockerorangem Hemd und einer in verschiedenen Brauntönen changierenden, schräggestreiften Krawatte, deren gnädigste Eigenschaft darin besteht, jeden Träger in wenigen Stunden lautlos zu erwürgen. Götz Schubert bewältigt diese Kostümanforderung mit maximaler Würde, das heißt, sie zwingt ihn nur jene wenigen Millimeter in die Knie, welche ausreichen, um jeden normalen Menschen in ein übernatürliches Anspannungswunder zu verwandeln.
Das Gesicht weist in der Folge bewundernswerte Blässe und den sanften Glanz kalten Schweißes auf, umrahmt von zwei Ohren, die man fast nicht abstehen sähe, wenn sie nicht so schön rot leuchten würden. Passend zum sauren Aufstoßen des Namens Uhltzscht, hat sich Schubert eine leicht nasal angesetzte Redeweise zurechtgelegt, welche die hohe Sprachkunst eines perfekt durchgebildeten DT-Schauspielers mit der vielfältig bedrängten Seelen- und Geisteslage von Stasi-Klausi kongenial zusammenführt: Er spricht sauber artikuliert und trotzdem voll gequetscht wie jemand, der sich sein Hirn in der Schreibtischschublade eingeklemmt hat.
Auf dieser Basis - der Anzug, die Knie, die Ohren, die Schublade - stürzt sich Götz Schubert auf Klaus Uhltzscht, bis Witz und Wahnsinn zur staatstragenden Einheit verschmelzen. Ein unmerklich leises Kiefermahlen vor dem flüsterleisen Mauerbrecher-Bekenntnis "Ich wars", ein kleines Schlucken vor dem Geständnis "Ich heiße Klaus" - schon ist die Psychopathologie jener Staatsdiener umrissen, die sich verschlagene Kinderschläue hinter dem glattrasiert grinsenden Durchschnittsgesicht bis ins hohe Alter bewahren konnten. Finale Zusammenhänge zwischen Sex und Politik werden durchsichtig, wenn sich Schubert beim Tagträumen bevorstehender Undercover-Abenteuer ein verhalten brünstiges Schnauben entlockt, wie es zuletzt Erich Honecker vor seiner Wandlitzer Softporno-Videothek entfahren sein muß; die Gefühlskultur einer ganzen Generation wird transparent, wenn Klaus die Angewohnheit seiner Mutter imitiert, Sex mit stimmhaftem S zu sprechen, was dem Brummen einer abstürzenden Hummel erstaunlich nahekommt.
Der dritte Weg beim Abschied von
Der Dümmsten Republik
Schubert gelingt in zwei Stunden entfesselter Verklemmung die glaubwürdige Verwandlung der DDR in Die Dümmste Republik, betrachtet von einem Oskar Matzerath des Geistes, der, intellektuell wachstumsgestört, selbst ein gutes Bild abzugeben droht für zahlreiche Landsleute. Denn nur so wird langsam verständlich, warum so viele von ihnen die Politphrasen und heißen Versprechungen aus dem Westen von den blühenden Landschaften offenbar wirklich geglaubt haben. Ähnlich wie in Grass' "Blechtrommel", dem Portrait der Kriegs- und Nachkriegsjahre aus der Perspektive von einem, der beschlossen hat, klein zu bleiben, wird die ungeheure Zeit in der ungeheuerlichen Verkürzung noch ungeheurer, zersetzten sich die Ideologie und ihre öffentlichen Greuel im greulich privaten Blick.
Sieben Jahre nach der Wende ist damit endlich geschehen, womit niemand mehr gerechnet hatte. Nach den erbitterten Abrechnungen mit Stasi-IMs und der ebenso erbittert einsetzenden Sehnsucht nach der verlorenen Zeit scheint jetzt die dritte, die Fun-Phase der Vergangenheitsbetrachtung angebrochen. Nachdem die DDR in den ersten Jahren seit ihrem Ableben entweder moralisch abgeurteilt oder ostalgisch verklärt wurde, darf jetzt herzlich gelacht
werden. "Helden wie wir" ist der allerneueste dritte Weg zurück, historisch mindestens ebenso angreifbar wie die Gauck-Behörde, nicht ganz so attraktiv wie Sarah Wagenknecht, aber wesentlich komischer.
Folgerichtig hat Wolf Biermann in seiner Rezension des Brussig-Romans angemerkt, daß der Autor die Stasi nicht nur in Grund und Boden verhöhnt, sondern "ganz nebenbei: Die Staatssicherheit wird in diesem Roman stark verharmlost. Das sollte einen wie mich eigentlich ärgern." ("Der Spiegel" 8/96) Sollte. Hat es aber nicht. Biermann muß erkannt haben, daß Brussig den staatsterroristischen Apparat nicht dem Gelächter preisgibt, um irgendjemanden zu salvieren oder alte Rechnungen zu begleichen. Denn das ist der Vorteil der Brussig-Generation, ihre Gnade der späteren Geburt. Sie sind in aller Regel zu jung, um sich nennenswert kompromittiert zu haben, und etwaige Revanche-Gelüste können sich höchstens auf ein paar Lehrer, Uni-Dozenten oder eben ihre Eltern richten. Für Christoph Dieckmann, nur ein paar Jahre älter und einer, der es wissen muß, ist "Helden wie wir" das Buch "einer systemkompatiblen Spätlings-Generation, die vor dem Fall der Mauer blaß blieb und sich auch danach kaum um die Deutung des Gewesenen bewarb. An der Utopie hatte sie sowenig teil wie an deren Aberbild, der kollektiven Resignation". ("Die Zeit" 37/95)
Christa Wolf als Jutta Müller -
und Honis Lieblingsspiel
Was - siehe Parzivals Schicksal - nicht vor falschen Vereinnahmungen schützt. Kaum ein Roman erfreut sich in den neuen Ländern so allumfassender Zustimmung. Vom "Neuen Deutschland" bis zu Günter Grass, der die DDR in seinem neuesten Roman eine "kommode Diktatur" geheißen hat, reicht der lobende Zuspruch, das verständliche "Entzücken mancher DDR-Nostalgiker" (Biermann) über einen, dessen vermeintliche Verniedlichung des untergegangenen Systems in ihr Konzept paßt. Und die dabei geflissentlich übersehen, daß eine DDR-Vergangenheit samt Staatssicherheit jemandem, dem sie von Geburt an größere Illusionen geraubt hat, auch keine umfassenden Verdammungsgefühle entlocken kann; daß einer, für den die Stasi so selbstverständlich war wie die Ampel an der Kreuzung, deshalb die Sicherheit im Straßenverkehr nicht leichtfertig aufgibt.
Das Mißverständis der Verharmlosung muß Peter Dehlers Theaterfassung in einem Punkt leider unterstützen, weil das grausig-komische Schlußkapitel des Romans, "Der geheilte Pimmel" schon aus Gründen der Länge (des Kapitels) nicht auf die Bühne zu bringen ist. Brussig hat sich das Vergnügen gemacht, die DDR-lkone Christa Wolf, an deren Firnis bislang nur Westkritiker zu kratzen wagten, vollständig der Lächerlichkeit preiszugeben, indem er sie in ganzer Länge zitiert: Ihre Rede vom 4. November auf dem Alexanderplatz, eine Sprachorgie des tobenden Biedersinns, die mit genau jener tantenhaften Betulichkeit von einem neuen Sozialismus spricht, mit welcher der alte die DDR in ein Staatsgefängnis mit Spitzenvorhängen verwandelt hatte. Uhltzscht hatte die Wolf in der Menschenmenge zwar gehört, aber von weitem nicht erkannt, weshalb er sie scharfsinnig mit Jutta Müller, Kathi Witts Eislauftrainerin, verwechselte. Erst 20 Seiten später klären sich die geistigen Eigentumsverhältnisse, was alles nur noch schlimmer macht. In der Bühnenfassung bleiben von Christa Wolf nur zwei unidentifizierbare Sätze. Wirklich schade drum. Aber dafür kennen jetzt auch die Theaterzuschauer endlich Erich Honeckers Lieblingsspiel: "Mikado - ein Spiel, das verloren ist, wenn sich etwas bewegt."
Franz Wille: Entfesselt verklemmt!, in: Theater Heute 6 (1996), S.36-39.