"Helden wie wir" von Thomas Brussig und Peter Dehler im Hessischen Staatstheater Wiesbaden

Der Mann, dem Deutschland den Fall der Mauer verdankt, hört auf den unseligen Namen Klaus Uhltzscht. Als Sohn einer Hygiene-Ärztin und eines Stasi-Oberen war es ihm nicht an der Wiege gesungen worden, maßgeblich zur Auflösung des real existierenden Sozialismus beizutragen. Im Gegenteil: Uhltzscht ist der Prototyp des angepassten, staatstragenden Kleinbürgers, der als Kind bereits davon träumt, sich beim Kampf gegen den kapitalistischen Klassenfeind in vorderster Reihe bewähren zu können, Kein Wunder also, dass er in die Fußstapfen seines Vaters tritt und als ein gut geöltes Rädchen in der Maschinerie des Überwachungsstaates auf seinen großen Einsatz wartet. Dass alles ganz anders kommt, verdankt die Welt der physischen Benachteiligung des Helden und seinem damit einhergehenden Minderwertigkeitsgefühl. Sein wichtigster Körperteil ist zu klein geraten, und als dieser nach einem kleinen Unfall - ausgerechnet während der großen Alexanderplatz-Demonstration am 4. November 1989 - anschwillt, nutzt der lebenslang zu kurz gekommene Uhltzscht seine neugewonnene virile Macht zur Revanche: Als er den schockierten Grenzern seine imposante Männlichkeit präsentiert, öffnen diese im Stupor das Tor zur Freiheit.

Als Thomas Brussigs Roman "Helden wie wir" 1995 erschien, lobte die Kritik einhellig die ebenso durchtriebene wie scharfsichtige Darstellung des autoritären Zwangscharakters, der das Fundament nicht nur der DDR-Diktatur ausmachte. Die Dressur des Kindes, das zwanghafte Einpauken von Ordnung, Sauberkeit, Disziplin, Fleiß und Bravheit als obersten Werten wird anhand der Familie Uhltzscht mit satirischer Schärfe durchbuchstabiert. Von Übel ist alles, was schmutzig macht, und vor allem der Körper, der männliche zumal, ist der rigiden Mutter allezeit verdächtig. Die Verknüpfung dieser lustfeindlichen Sexualmoral mit den Mechanismen der staatlichen Unterdrückung ist der bestechende Grundeinfall in Brussigs Roman und rückt auf einen Schlag den Charakter eines ganzen Volkes in ein ziemlich decouvrierendes Licht.

Für das Deutsche Theater in Göttingen hat Peter Dehler aus dem 300-Seiten-Roman ein überaus unterhaltsames Einpersonenstück gemacht, das es mit Klassikern wie etwa dem "Kontrabass" an Bühnenwirksamkeit mühelos aufnehmen kann. Unter der Regie von Themas Gerber hat Thomas Kienast, der bereits in Göttingen den Uhltzscht verkörperte und der nun am Wiesbadener Staatstheater engagiert ist, das Stück neu einstudiert. Im Vestibül des Kleinen Hauses, das in dieser Spielzeit bereits zum zweiten Mal als Bühne fungiert, reichen wenige Requisiten wie eine Tonne, ein Honecker-Porträt und ein Dia-Projektor, um realsozialistischen Mief zu verbreiten. Das Publikum sitzt wie im Kabarett an kleinen Tischchen.
Thomas Kienast, mit der unvermeidlichen Trainingshose und einem bläulichen Feinripp-Unterhemd bekleidet, lässt den Mauerstürzer Uhltzscht seine Lebensgeschichte erzählen. Der überangepasste Kleinbürger mutiert dabei mehr und mehr zum Schelm, dessen närrische Einsichten die ganze Wahrheit über das absurde Regime offenbaren.

Bisweilen freilich wird die kabarettistische Brillanz, mit der Kienast den Uhltzscht verkörpert, seiner Figur zum Verhängnis. Denn die Glaubwürdigkeit dieses etwas vertrottelten ewigen Verlierers wird durch das souveräne Auftreten Kienasts beeinträchtigt. Allzu treffsicher setzt er seine Pointen, allzu selbstsicher durchstreift er das Publikum, bittet hier um Mithilfe beim Bedienen eines Dia-Projektors, drückt dort einer verdutzten Frau eine Klobürste in die Hand, treffliches Symbol der anal fixierten Mutter des Helden. Etwas weniger wäre hier vielleicht mehr gewesen.

Doch diese Einwände tun dem Vergnügen des Publikums wie auch der analytischen Kraft des Stücks keinen Abbruch. Auch als eineinhalbstündiges Monodram hat Thomas Brussigs hellsichtige Satire nichts von ihrem Reiz verloren und wird aller Voraussicht nach an vielen Bühnen des wiedervereinigten Landes für ähnliche Begeisterung sorgen wie in Wiesbaden.

Matthias Bischoff: Freiheit statt Klobürste, in: FAZ vom 17.11.1998.