Vor nicht allzu langer Zeit war es auf Stehempfängen und Premierenfeiern üblich, die Krise des deutschen Films mit der Bemerkung "Es gibt in Deutschland keine guten Drehbücher" zu benennen. Ich erkühnte mich jedesmal zu erwidern, man solle mir nur sagen, was denn ein gutes Drehbuch sei – ich würde es dann schon schreiben. Natürlich war mir klar, daß ich eine ungemütliche, weil unbeantwortbare Frage stelle – aber die Frage, was ein gutes Drehbuch sei ist ähnlich heimtückisch wie die Frage nach dem "Erzählenswerten": Man weiß es immer erst hinterher, und allein aus dem, was sich allgemeingültig darüber sagen ließe, formt sich weder ein gutes Drehbuch noch eine erzählenswerte Geschichte.  

 

 

Es ist verlockend, der Frage nach dem "Erzählenswerten" auszuweichen und darauf zu verweisen, daß eine gute Geschichte zuallererst mal "gut erzählt" werden muß. Aber das weiß man beim Filmboard längst – sonst würde man sich wohl kaum Frank Daniel & Co. regelmäßig kommen lassen, um Autoren, Regisseure und Produzenten für die erzählerischen Mittel zu sensibilisieren. Die Frank-Daniel-Leute, wie sie genannt werden, wissen alles darüber, wie etwas gut erzählt wird, und es ist ihnen zuzutrauen, daß sie ein gutes Drehbuch darüber schreiben, wie in China ein Sack Reis umfällt. Vom ökonomischen Standpunkt betrachtet ist das gar nicht verkehrt: Ich sehe mir lieber einen gut gemachten, aber leeren Film an, als einen, der mir schlecht erzählt, an welchem Scheideweg die Menschheit gerade steht, und ich vermute, daß die meisten Zuschauer, ähnlich trivial veranlagt, ihre Präferenzen genau so setzen.

Wenn wir uns also einig sind, daß wir Filmleute nicht darum herumkommen, gut zu erzählen, können wir uns auch darüber unterhalten, was eine Geschichte erfolgreich macht. (Die obige Fragestellung nach dem "Erzählenswerten" habe ich ganz bewußt im Sinne der Fragestellung verzerrt.) Ich glaube, daß eine erfolgreiche Geschichte etwas enthält, was auf die Erfahrungen und die Ängste und Träume vieler trifft, ja sie sogar zu benennen, zu bebildern vermag. Wenn einer seine große Liebe verliert. Wenn einer alles auf eine Karte setzt. Wenn einer unbesiegbar ist. Wenn eine über ihren Schatten springt. Wenn sich einer gegen eine Demütigung wehrt. Wenn einer keine Ruhe findet. Besagte Erfahrungen müssen nicht unbedingt emotionale Erfahrungen sein – es kann sich genausogut um soziale Erfahrungen handeln: Wenn einer in den Westen kommt. Wenn einer am Rand lebt. Wenn eine in eine arabische Familie einheiratet. Wenn einer seiner Frau und seinen fünf Kindern verheimlicht, daß er arbeitslos ist. Es ist davon auszugehen, daß eine gute Geschichte überhöht erzählt wird. Eine gute Geschichte ist auf der Suche nach Superlativen – die größte Pechsträhne ist interessanter als eine Pechsträhne.
Es ist für mich immer wieder ein hochinteressanter Vorgang, wenn Kinozuschauer einen Film begeistert nacherzählen: Ich spüre immer wieder, wie der Film nur einen Vorwand liefert, um die Zuschauer endlich von sich selbst sprechen zu lassen und es sogar schafft, daß Zuschauer sich selbst besser verstehen lernen.
Schopenhauer sagte sinngemäß: Wenn wir ein Buch lesen, dann gestatten wir einem anderen Menschen, eine zeitlang in uns zu denken. Das Filmemachen ist ähnlich: Wer einen Film macht, wird für genau die Dauer des Films in den Köpfen vieler Menschen denken. Was für eine Chance! Aber auch was für eine Aufgabe! Produzent und Regisseur müssen sich ganz genau überlegen, welche persönlichen und originären Erfahrungen sie weitergeben wollen, und wenn sie schon an diesem Punkt profan denken, nach Mehrheiten und Zielgruppen schielen, dann haben sie schon verloren. Selbst die Geschichte eines kleinen Hunsrückdorfes kann ein Welterfolg werden, wenn der Regisseur nur gelassen darauf vertraut, daß jeder Mensch etwas hat, das für ihn Heimat ist. Es gibt eine Erzählintensität, die nicht korrumpierbar ist: Sie ist von Anfang an da (oder nie), und wenn sie im Filmschöpfungsprozeß nicht respektiert wird, dann verschwindet sie ersatzlos, und der Film, der trotzdem gemacht wird, werden wir zurecht vergessen.
Zweitens: Ich glaube, daß eine Geschichte eher dann erfolgreich ist, wenn sie mehrere Lesarten erlaubt. Es schadet ihr nicht, wenn sie vielschichtig ist, auslegbar, rätselhaft. Daß man sie mit dreißig Jahren anders versteht als mit achtzehn Jahren. Daß ein Tankwart sie anders versteht als eine Geographielehrerin. Der Zuschauer versteht die Geschichte immer – aber auf seine Art. Eine gute Geschichte will das auch; sie ist vielfältig sinnstiftend. Es liegt in der Natur des Geschichtenerzählens, daß Geschichten eine unausgesprochene Essenz in sich tragen, und je merkwürdiger und verstörender dieser heimliche Kern ist, desto größere Chancen hat eine Geschichte, daß sie uns nicht losläßt und uns statt dessen immer wieder beschäftigt und beunruhigt.


Thomas Brussig: Filmboard...