Interview: Volker Gunske und Sven S. Poser

tip: Herr Brussig, in Ihren Büchern "Helden wie wir" und "Am kürzeren Ende der Sonnenallee " und den Verfilmungen, zu denen Sie ebenfalls die Drehbücher schrieben, widmen Sie sich ausschließlich der Aufbereitung der DDR-Vergangenheit. Sind Sie so etwas wie der literarische Abschnittsbevollmächtigte Ost?

Thomas Brussig: Es ist natürlich klar, dass, wenn am 9. November in Deutschland oder Europa irgendwelche Fernsehfeatures laufen, die Teams sich auch nach Schriftstellern umschauen. Und dann fällt ihnen Peter Schneider ein, Stefan Heym und wahrscheinlich ich. Trotzdem spüre ich da keinen Druck. Es ist nicht so, dass ich jetzt denke: Mensch, da gibt's keinen Mauerfallspezialisten, also werde ich diese Rolle jetzt bis an mein Lebensende besetzen. Dazu bin ich ein viel zu neugieriger Typ, der auch nach neuen Herausforderungen sucht.

tip: Ihr neues Buch "Am kürzeren Ende der Sonnenallee« wirkt wie das Gegenprogramm zu "Helden wie wir". Sie blicken darin wie durch einen Weichzeichner zurück auf die DDR-Jahre, die Ihre Figuren, scheinbar mühelos und ohne seelischen Schaden zu nehmen, überstehen.

Brussig: Beide Bücher haben auf ein aktuelles Phänomen reagiert. In "Helden wie wir" ging es um die nicht stattfindende Auseinandersetzung mit der DDR, die mich wirklich geärgert hat. Mittlerweile bin ich davon überzeugt, dass es dazu auch nicht mehr kommen wird. Die Chance ist vertan, weil zum einen die DDR langsam in Vergessenheit gerät. Und zum anderen wird es so etwas wie die 68er, das heißt, eine Generation, die ihre Eltern fragt, für die DDR-Vergangenheit nicht geben. Auch weil das demografische Gewicht Ostdeutschlands einfach nicht schwer genug ist, als dass eine Auseinandersetzung

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erfolgreich initiiert werden könnte.

tip:Und weil es, anders als im Nationalsozialismus, nicht dieses einzigartige Verbrechen gab, nach dem man fragen muss?

Brussig: Wenn man die 40 Jahre DDR betrachtet, dann sind sie, gemessen an den Katastrophen dieses Jahrhunderts, noch recht glimpflich abgelaufen. Und es ist komisch und in einer gewissen Weise auch lächerlich ausgegangen. In "Am kürzeren Ende der Sonnenallee" geht es auch um ein aktuelles Phänomen, nämlich die Verklärung der DDR. Ich hatte den Vorsatz, mal ein richtig liebevolles, verklärendes Buch zu schreiben.

tip: Also ein Experiment?

Brussig: Ich wusste zwar, wo die Geschichte spielt und welche Episoden ich schreiben würde.
Aber den Ton musste ich erst noch finden. Auffällig ist, dass für die Verklärung, die da betrieben wird, literarisch ein Preis zu zahlen war. Zum Beispiel ist dieses Buch überhaupt nicht präzise. Es wird da immer so ein Gewölk erzeugt, so ein gut duftender Nebel. Aber wenn ich mich genauer ausgedrückt hätte, wäre es eben keine Nostalgie mehr gewesen. In dem Buch geht es nicht darum, wie die DDR war, sondern darum, wie man sich heute an sie erinnert. Und ich habe während des Schreibens herausgefunden, dass Erinnern und Vergessen keine Gegensätze sind, sondern Hand in Hand gehen. Die Erinnerung ist wie ein seelisches Organ, das die Vergangenheit verdaut und uns hilft, mit dem, was war, ganz gut leben zu können. Es gibt Menschen, die haben in einer furchtbaren Ehe gelebt und heben sich trotzdem noch die Liebesbriefe auf

tip: Nachdem das Drehbuch zu "Sonnenallee" fertig war, haben Sie beschlossen, den Stoff noch einmal literarisch zu bearbeiten. Warum?

Brussig: Zum einen war für viele schöne Geschichten, die Leander Haußmann und ich im Laufe der Zeit entwickelt haben, im Film kein Platz mehr. Und dann gab es ja auch irgendwann den Punkt bei der Arbeit, an dem die Interessen auseinander liefen. Leander wollte einen Liebesfilm, ich wollte eine Mauerkomödie machen. Und weil ich diesen Stoff ja liebte, habe ich mich noch einmal an die Geschichte gesetzt.

tip: Durch den nostalgisch-verklärenden Tonfall läuft "Sonnenallee" sowohl als Buch wie als Film manchmal Gefahr, die DDR- Wirklichkeit zu verharmlosen. Konnten oder wollten Sie nicht kritischer mit dem SED-Staat umspringen?

Brussig: Das hielt ich nicht für nötig, weil das Buch gar nicht versucht, die reale DDR auszuleuchten, sondern sich mit den Erinnerungen an die DDR beschäftigt. Dieser Ansatz war natürlich schwieriger als bei "Helden wie wir". Damals hatte ich ein Interview mit Christa Wolf gelesen, in dem sie sagte, ihr sei schon '68 beim Einmarsch in die CSSR klar gewesen, dass die DDR-Gesellschaft keine Chance mehr hatte. Darauf habe ich reagiert, indem ich einen Romanhelden erschuf, der eben an dem Punkt, an dem die Schriftstellerin Christa Wolf sagt, ab hier war es aus und vorbei, geboren wird. Ihre Bemerkung hatte mich ziemlich geärgert. Wenn sie das alles tatsächlich wusste, dann hätte sie das ja auch in ihren Büchern so deutlich sagen können.

tip: Welche Wirkung erhoffen Sie sich von der Art Verklärung, die Ihr Roman betreibt?

Brussig: Ich bin ja nun ein sehr moralischer Mensch. (lacht) Deshalb denke ich, dass das Buch tatsächlich geeignet ist, dieses deutsch-deutsche Missverständnis ein bisschen aufzuhellen. Ich hoffe, dass die Westler verstehen lernen, dass die Ostdeutschen, wenn sie sich an die DDR gerne erinnern, diesen Staat trotzdem nicht wiederhaben wollen. Den Ostdeutschen muss dagegen klar werden, dass die Erinnerungen an die DDR nicht dazu geeignet sind, Tagespolitik zu machen.

tip: Der Lebenslauf auf den Klappentexten Ihrer Bücher klingt ziemlich nach unangepasstem Bohemien. Ist der häufige Berufswechsel ein Indiz dafür, dass man aus dem normalen Kreislauf schon rausgefallen war, sich am Rand der Gesellschaft befand?

Brussig: Ich hatte Abitur, ich hätte studieren können, aber ich wusste nicht, was. Ich wusste nur, dass ich diese Abhängigkeit, die ich von der Schule, der Ausbildung und der Armee her kannte, nicht mehr wollte. Ich lebte damals ständig mit dem Gefühl, dass sich kein Mensch für das Beste, was ich geben kann, interessiert. Also dachte ich, ich mache jetzt Jobs und werde mit der Zeit eine ehrliche Haut. Mit Mut hatte das allerdings nichts zu tun. Es war ja auch kein totaler Ausstieg. Ich habe immer eine geregelte Arbeit gehabt.

tip: "Helden wie wir" fasziniert auch wegen seiner Passagen über die Staatssicherheit. Hatten Sie eigentlich mal selber mit der Stasi zu tun?

Brussig: Opfer von Zersetzungsmaßnahmen bin ich nicht geworden. Aber da gab es eine andere üble Geschichte. Ich hatte in der Armee verbotenerweise Tagebuch geführt, das eines Tages gefunden und an den Militärstaatsanwalt übergeben wurde. Ich hatte mächtig Angst. Die Armee fand ich zum Kotzen, und Armeeknast war wirklich etwas, das ich mir nicht antun wollte. Irgendjemand riet mir

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damals: Geh mal, da und da hin, da sitzt einer, erzähl dem das mal und frag den, ob er was für dich tun kann. Mir war gleich klar, dass ich da als Informant angeworben werden sollte. Nach einer schlaflosen Nacht war ich entschlossen, mitzuspielen, hatte mir aber drei Dinge vorher überlegt: Erstens erzähle ich dem alles, was ich weiß, weil ich damit rechnen muss, dass ich kontrolliert werde. Zweitens breche ich alle Kontakte zu Leuten ab, die in oppositionellen Gruppen tätig sind, um mich als Quelle trockenzulegen. Und drittens werde ich mich über die Verjährungsfristen wegen des verbotenen Tagebuchs erkundigen. Doch als ich da hinkam, hat der Mann nur gesagt: "Ich kenne die Geschichte, aber ehrlich gesagt interessiert mich das gar nicht. Ich habe das Buch dem Verantwortlichen zurückgegeben, und ich glaube auch nicht, dass da noch was nachkommen wird." Er hat meine Notlage nicht ausgenutzt, und es ist dann tatsächlich auch nichts passiert. Die Einschüchterung haben andere besorgt, zum Beispiel die Offiziere, die auf dem Appell die ganze Truppe antreten und mein Tagebuch in Auszügen vorlesen ließen. Meine Stasi-Episode lief also darauf hinaus, dass die anderen die Riesenarschlöcher waren. Dagegen hat der Stasi-Typ nicht nur meine Angst nicht ausgenützt, sondern sie mir auch genommen. Auch das ist die DDR.

tip: Es ist auffällig, dass die zur Zeit interessantesten Bücher von Leuten wie Ingo Schulze oder Jens Sparschuh kommen, die in der DDR aufgewachsen sind. Haben Autoren mit diesem Hintergrund mehr zu erzählen als Leute, die in Köln aufgewachsen sind?

Brussig: Die Erfahrung des Bruchs spielt da ganz sicher eine Rolle, genauso der überschaubare Zeitraum. Die DDR lässt sich immer von ihrem Ende aus erzählen. Außerdem gibt es da noch viele Geschichten zu holen. Als es den Staat noch gab, ist er immer tiefgründigen Analysen unterzogen und an seinem Anspruch gemessen worden. Jetzt entdecken wir plötzlich, dass die DDR einen Alltag, ein konkretes Interieur und auch ihre Profanitäten hatte. Dieser veränderte Blick ist, glaube ich, auch auf "Helden wie wir" zurückzuführen. Mit dem Roman ist damals der Knoten geplatzt. Es gibt seitdem eine ganze Anzahl von Büchern, die versuchen, die DDR komisch aufzuarbeiten, und bei denen ich mir sicher bin: Diese Bücher hätte es ohne "Helden wie wir" nicht gegeben.

tip: Man wird nicht nur "Am kürzeren Ende der Sonnenallee", sondern auch Ihre künftigen Bücher am Erfolg von "Helden wie wir" messen. Um mit Andy Warhol zu sprechen: Sie hatten bereits Ihre 15 Minuten Ruhm. Reichen Ihr Ehrgeiz und Ihre Energie für mehr?

Brussig: Ich bin schon in der ersten Woche nach Erscheinen von "Helden wie wir" in einer Talkshow gefragt worden: Und? Was kommt jetzt als Nächstes? Aber ich habe mich diesem Druck nicht ausgesetzt. Ich kann gut damit leben, dass "Helden wie wir" vielleicht mein größter Erfolg sein wird. Günter Grass hat "Die Blechtrommel" veröffentlicht, als er 32 Jahre alt war. Er hat sich zwar danach literarisch weiterentwickelt, aber er hat nie wieder so einen Erfolg gehabt. Ich kann dem gelassen entgegenblicken, falls mir etwas Ähnliches blüht. Andere haben nie so einen Erfolg, und ich hatte ihn wenigstens einmal. Und das ist irgendwie sehr schön.


Volker Gunske/ Sven S. Poser: Nachdenken über Thomas B., in: Tip-Magazin (21) 1999.