Interview mit Leander Haußmann und Thomas Brussig

Frage: Wer ist betrunken heute?
Brussig: Frag lieber: ist jemand betrunken heute...
Frage: Ist jemand betrunken heute?
Haußmann: Nein, nicht mehr.


Frage: Ich frage nur, weil Leander bei Eurem letzten gemeinsamen Auftritt in Berlin anläßlich der Drehbuchpreisverleihung betrunken war...
Haußmann: Ich war gar nicht betrunken, ich hatte nur einen Kater.
Brussig: Also, zu mir hast Du gesagt, Du seist total betrunken.
Haußmann: Gut, ich war in der post-alkoholischen Euphorie. Ich habe aber auch nicht geahnt, daß das so ein riesiges Ding wird, daß da morgens um elf Uhr hunderte von wildfremden Menschen in einem Raum stehen und gucken, wie jemand einen Preis bekommt.
Frage: War dieser Auftritt charakteristisch ist für die Rollenverteilung des Autorenduos? Thomas hält eine pointenreiche Rede, gut vorbereitet und nüchtern, Leander hält seine Rede betrunken, witzig und mischt die ganze Veranstaltung auf?
Brussig: Das zeigt eher die unterschiedlichen Mentalitäten. Ist doch auch schön, daß Leander mit seinem Charme dann doch noch alle rumgekriegt hat.
Haußmann: Da ist es wieder, das Dilemma meines Lebens: am Ende spricht man nicht über die Leistung, sondern über die Art der Präsentation. Keine Zeitung hat geschrieben: schön, daß Leander Haußmann und Thomas Brussig den Drehbuchpreis gekriegt haben, sondern: besoffen den Preis entgegenommen! Das ist typisch. Das war in meinem Leben immer so.
Frage: Dem Thomas würde so eine Schlagzeile nicht passieren.
Haußmann: Thomas Brussig wäre nicht besoffen.
Brussig: Dann hätte aber auch keiner über den Preis geredet. Ehrlich gesagt ist mir so ein Preis aber gar nicht wichtig. Mir ist wichtig, daß ein Film beim Publikum erfolgreich ist. Und daß er mir gefällt. Außerdem ist dieser Preis ist noch vor wenigen Jahren ausdrücklich für Drehbücher vergeben worden, die nicht verfilmt wurden. Das war Ausschreibungsbedingung! Man schreibt doch nicht ein Drehbuch, um dafür einen Preis zu kriegen, sondern damit daraus ein erfolgreicher Film wird.
Frage: Habt Ihr eigentlich unterschiedliche Erfolgskriterien?
Haußmann: Erfolg muß man definieren und sich vorher wappnen. Man sollte ihn nie über Zuschauerzahlen definieren, das finde ich ganz furchtbar. Mir gefällt der Film, ich habe aus mir selber das Maximale herausgeholt - immerhin habe ich vorher nie Film gemacht. Erfolg kann man nicht messen. Ich kann doch nicht plötzlich meine Meinung ändern, weil es dann ein paar Millionen weniger sind, die den Film sehen. Ich habe immer Dinge gemacht, die ich gut fand und habe mich nie darum geschert, ob es auch andere gut finden.
Brussig: Wenn ich etwas mache, ist es mir schon wichtig, daß viele davon wissen, aber auch, daß ich das Gefühl habe, daß es das Leben bereichert. Daß es für viele wichtig gewesen ist, sich damit zu konfrontieren.
Haußmann: Für mich wäre es ein richtiger Mißerfolg, ein Schock, wenn keiner lachte.
Frage: Wie unterschiedlich seid Ihr sonst, von der Mentalität her?
Haußmann: Ich habe den Thomas ja in Verdacht, daß er rot war. Ein rotes Ossi-Schwein...(lacht) Sonst sind wir ein bißchen wie die beiden aus der Serie "Die zwei" - er wäre Roger Moore, ich Tony Curtis. So könnte man unser Verhältnis bezeichnen, wenn man liebevoll ist.
Brussig: Wir sind doch eher Schimanski und Tanner.
Haußmann: Egal, aber als Kommissare wären wir in jedem Fall eine gute Charakterkonstruktion.
Brussig: Das ist wahr.
Haußmann: Und was das Drehbuch angeht, ist es ja klar, daß ich nicht das Leben von Thomas Brussig verfilmen kann.
Brussig: Ich habe aber auch nicht über mein Leben geschrieben.
Haußmann: Aber Du hast Deine Erfahrungswelt und Dein Umfeld einfließen lassen. Das kannst Du doch von dem, was Du machst, gar nicht loslösen. Ich habe auch meine Erfahrung und meine Geschichten einfließen lassen. Dann gibt es noch Produzenten und Geldgeber, die hatten natürlich auch einen entsprechenden Einfluß auf die Geschichte. Wären die Produzenten nicht gewesen, dann wäre die Geschichte wohl viel früher zum Abschluß gekommen. Ob das gut oder schlecht war, kann ich nicht mehr sagen. Wir waren jedenfalls froh, als wir das Drehbuch endlich soweit hatten, daß es jemand verfilmen wollte.
Brussig: Darüber war ich auch froh, daß sie es letzten Endes noch gemacht haben. Aber es gehört wirklich zu meinem Selbstverständnis als Autor, daß ich nicht über mich selbst schreibe. Die Erfindung ist immer edler, als das Erlebte. Und mir war klar als ich Dich angesprochen habe, daß Du anders bist, und genau dafür habe ich mich interessiert. Ich hatte das Gefühl, daß dieser Stoff dieses "andere", was durch Dich kommt, auch braucht.
Frage: Wie bist Du gerade auf Leander gekommen?
Brussig: Ich hatte mal ein Interview mit ihm gelesen und fand es klasse, wie er da über den Osten geredet hat. Er sagte etwa: die DDR war die totale Hippie-Republik, wir haben auf Matratzen gelegen und gesoffen und uns ständig krank schreiben lassen. Das war so unverkrampft. Ich mochte es, daß er nicht die typische Geschichte vom totalitaristischen System gebracht hat. Deshalb dachte ich: er ist der Richtige. Ich fand es auch gut, daß der Regisseur auch biographisch auf den Stoff reagiert, nicht nur ästhetisch.
Frage: Leander, kanntest Du Thomas oder sein Buch "Helden wie wir"??
Haußmann: Das Buch hatte ich noch nicht gelesen.
Brussig: (lacht) Er hat es bis jetzt nicht gelesen! Dabei habe es ihm im Januar noch einmal geschenkt . Er ist so ein Ignorant. Ich bin, wann immer ich konnte, zu jeder Premiere von ihm gefahren.
Haußmann: Ich bin aber nicht aus Arroganz ein Ignorant, sondern weil ich immer so viel anderes zu tun habe, mich mit anderen literarischen Dingen beschäftigen muß. Da komme ich nicht dazu, anderes zu lesen. Ich bin doch autistisch, das gibt doch nur Chaos in meinem Kopf.
Frage: Hattest Du dennoch eine Vorstellung davon, was Thomas für einen Film machen wollte?
Haußmann: Er hat mir das Treatment gefaxt und mir war sofort klar: das wird ein Sechs-Stunden-Werk, die Nachfolge von Bertoluccis "1900". Es war also sehr lang und der Hauptakzent lag damals noch stark auf der Familie und ihren verschiedenen Mitgliedern. Dadurch hatte der Film einen sehr stark episodischen Charakter. Er war ja auch inspiriert von Woody Allens "Radio Days", das war auch das erste, was wir uns angeguckt haben.
Brussig: Wenn "Sonnenallee" so gemacht worden wäre, wie "Radio Days", dann würde das an eine Erfahrung von vielen Leuten anknüpfen und deswegen in Deutschland erfolgreich sein.
Haußmann: Übrigens, Thomas – hast Du kürzlich auch Atze Brauner im Fernsehen gesehen? Ich stehe in der Küche und beschäftige mich mit häuslichen Dingen und höre plötzlich: "Also, nein, das mit den Ost-Themen sollte man sich überlegen, das stinkt, das sollte man nicht anfassen, das riecht nach Armut, da gehen die Leute nicht rein..." Zehn Minuten darüber, warum die Leute in so einen Film nicht reingehen würden!
Frage: Hat Dich das beim Abspülen einen kleinen Moment lang verunsichert?
Haußmann: Nein, aus der Verunsicherungsphase bin ich raus.
Frage: Thomas wollte also "Radio Days" für Deutsche machen. Und was wolltest Du?
Haußmann: Ich hatte verschiedene Filme im Kopf, auch so etwas wie "Alices Restaurant", Jugendfilme der Sechziger Jahre, mit vielen Songs und so.
Brussig: Mensch, da hätten wir uns auch noch treffen können! Das höre ich heute zum ersten Mal.
Haußmann: Oder in der Struktur von "Easy Rider": man nimmt einen Faden und baut die Geschichten drumrum. Alltägliche Geschichten, die uns interessieren, weil sie besonders sind. Das komische ist ja, daß ich ja immer einmal einen Film machen wollte, aber eher einen Krimi oder einen Abenteuerfilm. Ich hätte nie gedacht, daß ich einer bin, der einen Ostfilm macht.
Frage: Warum denn nicht?
Haußmann: Naja, ich hatte früher schon einmal überlegt, ob ich nicht einmal meine Lebensphase nach der Armee-Zeit beschreiben sollte: diese Bohème im Osten, die war ja auch sehr komisch. Aber das ich mit so etwas als ersten Film antrete – das hätte ich nicht gedacht.
Frage: Was hat Dich überzeugt, es doch zu tun?
Haußmann: Ich war sofort überzeugt davon, daß mich der Stoff interessiert, falls ich jemanden treffe, mit dem zusammen ich das überzeugend hinstelle. Wenn man nämlich später mit dem Team auf dem Set steht, muß man hundertprozentig von der Sache überzeugt sein, da darf nicht ein Detail sein, von dem man nicht überzeugt ist.
Frage: Und Thomas war dieser jemand?
Haußmann: Er ist auf eine gewisse Art natürlich ein typischer Autor, mit dem es eben diese typischen Autoren-Konflikte gibt. Der Autor denkt vom Regisseur doch immer, daß der ein bißchen minderbemittelt ist und dem Kunstwerk die Substanz entzieht. So ist das doch immer in einer Beziehung. Thomas' Qualität als Autor ist unbestritten. Er ist einer der wenigen, die im deutschen Sprachraum Dialoge schreiben können. Deswegen hat der auch so viel zu tun und verdient auch gutes Geld damit. Ich hätte mich nicht alleine hinsetzen und ein Drehbuch schreiben können.
Brussig: Als ich Dich gefragt habe, war ich wirklich in einer Situation, wo ich mir aussuchen konnte, mit wem ich arbeite. Ich wollte wirklich mit Dir zusammen arbeiten. Wenn es so ist, daß ich Dialoge schreiben kann, dann habe ich bei Leander immer gesehen, daß er einer ist, bei dem Dialoge lebendig werden.
Haußmann: Thomas kennt den Film ja noch nicht. Aber ich weiß jetzt schon, was ihm gefällt und was nicht.
Frage: Was wird das sein?
Haußmann: Das, was von ihm ist. Eindeutig. Das war bei der Arbeit schon so: bei allen Texten, die ich geschrieben hatte, bist Du zusammengezuckt. Alles, was Du geschrieben hattest, ging durch.
Brussig: Das ist ein bißchen ungerecht. Und es stimmt auch nicht. In der literarischen Bearbeitung, die ich jetzt noch gemacht habe, sind so viele Sachen von Leander dabei - er hat auch wirklich viele Einfälle dazugegeben, die mir wirklich gut gefallen haben.
Haußmann: Es hat sich aber noch sehr vieles geändert. Wir haben zum Beispiel vieles von den politischen Sachen noch stark verknappt.
Frage: Es gibt eigentlich doch nur noch eine richtig politische Stelle, als die beiden Freunde plötzlich die Rollen tauschen: der einstige Rebell wird zum Kollaborateur, der Angepaßte dagegen rebelliert.
Haußmann: Der ganze Film ist politisch, fast in jeder Szene werden die Figuren mit Politik konfrontiert. Ob Onkel Heinz am Grenzübergang schmuggelt, ob die Familie zu Hause die politische Situation auswertet, ob sie einem Rotarmisten gegenübersitzen, ob die Jungs einen verbotenen Song auf der Straße hören – jede Szene ist politisch. Nur ist es eben nicht ein Thriller. Ich glaube auch nach wie vor, daß sich die DDR dafür nicht eignet.
Brussig: Stimmt. Die eignet sich nur zur Burleske.
Haußmann: Wenn man einen Thriller machen will, sollte man nicht den Osten nehmen.
Frage: Oder, wie in den Hollywood-Filmen, gleich ganz nach Rußland gehen.
Haußmann: Das ist in Ordnung, weil durch diesen großen Abstand eine Kunstwelt konstruiert wird. Wenn wir das aber versuchen, bekommt das immer so einen Realismus, und den habe ich im Film weitgehend versucht, zu vermeiden. Wenn man genauer hinguckt, wird man sehen, daß der Film vollkommen unrealistisch ist. Das Dekor, die Straße - das sieht alles gebaut aus. Ich liebe das auch. Ich finde es total langweilig, wenn sechs Intellektuelle in einen Raum sitzen, miteinander reden und so tun, als ob sie Manfred Krug wären. Ein unangenehmer Gedanke, daß man versucht, diesen vollkommen unrealen Zustand, in dem wir damals gelebt haben, realistisch zu machen. Dann wird es langweilig. Dann wird es Fernsehspiel.
Frage: Ist der einzige reale Anknüpfungspunkt bei "Sonnenallee" Euer "Mauerberater" am Set gewesen? Ein ehemaliger Stasi-Offizzier, der Mann, der tatsächlich den Kreidestrich dort gezogen hat, wo die Mauer um den Checkpoint Charlie gebaut wurde?
Haußmann: Ja, aber der hat uns auch nichts neues erzählen können. Der hat immer nur gesagt: hier war es flexibel, und da trug man die Uniform... Ein wirklich lebenslustiger Typ, der sich heute mit Mauermerchandising über Wasser hält.
Frage: Habt Ihr eigentlich unterschiedliche Arbeitsweisen? Wie habt Ihr dieses Drehbuch zusammen geschrieben?
Brussig: In der Frühphase habe ich ihn angerufen und gesagt: "Hier ist Thomas Brussig, ick habe da einen Film..." und er: "Jaja, schick mir det mal." Er hat es gelesen und gesagt: ja, finde ich gut, die Liebesgeschichte gefällt mir, aber es müßte in den Siebziger Jahren spielen.
Frage: Wann spielte es denn ursprünglich?
Brussig: In den Achtzigern. Es endete auch mit dem Mauerfall. Der Schluß war so, daß Micha es tatsächlich schafft, endlich mal in den Westen fahren zu dürfen. Und als er im Westen ist, fällt die Mauer. Er ist gerade auf dem Rückweg zur Grenze und war voll entschlossen, dem Grenzer ins Gesicht zu sagen: "Ja, ich komme zurück, ich bin erwachsen genug, ich weiß selber, was für mich gut ist, und ich gehe zurück, weil hier mein Platz ist", und plötzlich sind so viele Leute auf der Straße, auch so immer mehr Trabis, die ihm entgegen kommen, und sein alter Schuldirektor wirft sich ihm mit Tränen in den Augen um den Hals, weil er ihn für einen Wessi hält...
Frage: Das fand Leander nicht gut?
Brussig: Nicht, daß er es nicht gut fand. Er fand nur die Siebziger Jahre kultiger. Da hatte er auch recht.
Haußmann: Wir haben ja extra ein bißchen Zeitverwirrung gestiftet. Zum Beispiel hingen in der Zeit, wo das spielt, noch keine Honecker-Bilder in den Amtsstuben, sondern Ulbricht-Bilder.
Brussig: In welcher Zeit spielt es denn dann?
Haußmann: Es gibt Hinweise, zum Beispiel das Jugendfestival. Das war 1974.
Brussig: Nein, das war 1973. 1974 sind die Festivalkinder geboren worden...
Haußmann: Aber die Songs, die gespielt werden, gab es zum Teil noch nicht. Meine Idee war: die DDR war eigentlich immer in den Siebzigern. Das kann man auch an den elektrischen Geräten ablesen, und an der Mode. Das ist fast eine eigene Kreation. Bert Neumann hat da auch wunderbar gearbeitet - der bestimmt teilweise den Film.
Brussig: Durch die Entscheidung für die Siebziger hatten wir natürlich ein Problem, weil dieser Einfall uns den Schuß gekostet hat.
Frage: Am Schluß des Filmes wird jetzt aber dennoch der Mauerfall angedeutet....
Haußmann: Das haben wir extra so ein bißchen wie in "Hair" gemacht, extra zu dick aufgetragen, das ist Fiktion, gespielt. So können wir sagen: am Ende wird die Mauer fallen. Aber so, daß nachher niemand kommen kann und sagen: das war doch ganz anders. Es gibt ja Leute, die bei Filmen unangenehm pedantisch werden, komischerweise sind das eher die Wessis, die dann plötzlich sagen: so nah kam man an den Todesstreifen doch gar nicht heran...
Brussig: Am Anfang hatten wir jedenfalls einfach das Problem, daß ich dastand, mit den Füßen scharrte und loslegen wollte. Leander und ich haben uns immer verabredet, und dann hieß es: wir machen das im Februar oder März, aber es wurde Ende März und es war immer noch nichts passiert. Dann war er in Basel, und ich habe ihm das überall nachgeschickt und ihn nach acht Wochen angerufen und gefragt: wie findest Du es jetzt? Er hat geantwortet: ich muß das erst einmal lesen, ruf mich doch morgen noch einmal an. Also habe ich ihn angerufen, er hatte es gerade vor zwanzig Minuten gelesen und wieder irgend etwas anderes gesagt. Jedenfalls passierte da nicht viel, weil er immer zu tun hatte und wir nicht richtig loslegen konnten. Im Juni 1997 haben wir uns dann einmal getroffen, das war auch so ein komisches Zusammentreffen, irgendwie typisch für das, was mich so aufgeregt hat an ihm: um sieben Uhr waren wir mit dem Produzenten verabredet und haben uns schon um fünf getroffen, um über das Drehbuch zu reden. Und er fängt an zu erzählen: dieser Film darf natürlich nicht billig gemacht werden und so einen Produzentenkram eben, nichts über das Drehbuch. Zwei Stunden später trafen wir uns dann mit dem Produzenten und da fing er plötzlich an, über das Drehbuch herzuziehen. Mit Leander war es doch nicht so dicht oder eng, wie ich es mir gewünscht hatte. Und wie wir das auch verabredet hatten.
Haußmann: Die Koordinierung der Termine war schwer, weil ich so viel zu tun hatte.
Brussig: Und in der Spätphase war es dann bei mir schwierig, weil dann die Sache mit Edgar Reitz in die Gänge kam.
Haußmann: Da hat er ja seinen Meister gefunden....
Frage: Weil Du, Leander, die Rolle nicht übernommen hast....
Brussig: Leander ist unglaublich gekränkt, daß ich mit so einem Respekt über Edgar Reitz rede. Mit Edgar Reitz zum Beispiel machen wir so etwas, daß wir uns fünf Wochen irgendwo vergraben und zusammen arbeiten, in Nebenzimmern und so.
Frage: So hättest Du Dir das mit Leander gewünscht?
Brussig: So haben wir das auch kurz einmal gemacht, als ich nach Bochum gefahren war. Aber da hatte er gerade einen unglaublichen Schlag vor das Schienbein bekommen, eine echte Niederlage erlitten. Da war er nicht in der Lage, gut zu arbeiten. Das war wieder Pech: ich war in der Stimmung, auch etwas umzustürzen, ich war superoffen - was bei mir auch nicht immer der Fall ist, weil ich auch manchmal verbohrt bin – und Leander war zu. Die Zusammenarbeit hatte so etwas sporadisches. Leander ist vom Temperament her eben auch kein Autor.
Frage: Sondern?
Brussig: Der ist einfach genial. Er kommt an, erzählt eine Geschichte die er gut findet, und die soll dann irgendwie in den Film eingearbeitet werden. Was natürlich für mich eine Herausforderung ist, weil ich ja immer an das Gesamtkonzept denke und daran, wie man was wo unterbringen kann. Ich spürte aber auch, daß er mit der Geschichte etwas anfangen kann. Haußmann: Normalerweise kann ich auch gar nicht so arbeiten, weil meine persönliche Infrastruktur ganz anders ist. Ich mache Theater, im Gegensatz zu Edgar Reitz. Der macht Film. Ich bin ein Quereinsteiger. Ich hatte also nicht so viel Ahnung, eigentlich gar keine, die mußte ich mir auch erst im Verlauf dieser Sache erarbeiten. Und dann war mein Problem zweitens die Vermittlung zwischen Autor und Produzenten, weil ich als Regisseur dazwischen sitze. Dann gab es den Moment, wo auch ich der Meinung war: jetzt haben wir es, das Buch. Jetzt ist es fertig. Das war das letzte mal, daß wir uns trafen. Danach gab es dieses Frühstück mit den Produzenten Boje und Buck, und die haben uns ganz schön den Kopf gewaschen. Die haben das ganze Buch dermaßen auseinander genommen, daß ich, was ich nie von mir gedacht hätte, gesagt habe: jetzt ist das Projekt gestorben, das kriegen wir nicht mehr hin. Ich freue auf den Urlaub.
Frage: Was war der generelle Einwand der Produzenten?
Haußmann: Jetzt ins Detail zu gehen, ist müßig. Es war teilweise richtig, teilweise falsch, und aus dem Falschen und dem Richtigen hat man dann in der letzten Woche etwas gemacht, von dem man der Meinung war: das könnte ein Film werden, der mehr Leute interessiert, als vielleicht nur die, die im Prenzaluer Berg wohnen. Ich habe in den ganzen Drehbuchentwürfen immer nach Attraktivität gesucht....
Brussig: Ich auch.
Haußmann: Der Film sollte attraktiv aussehen. Mir war auch relativ früh klar, daß wir den Westen nicht zeigen dürfen. Deswegen war es mir immer suspekt, daß er über die Grenze geht. Ich fand das bildlich nicht interessant. Jetzt hätte ich zum Beispiel aber gerne einen Gegenschuß gehabt, wenn die Mutter rübergeht. Wo sie plötzlich vielleicht von allem so geblendet wird.
Brussig: Man muß nur ihr Gesicht zeigen, wenn sie in den Westen geht.
Haußmann: Das haben wir jetzt ja. Aber der Westen ist plötzlich für den Betrachter das geheimnisvolle Land. Der sieht neunzig Minuten lang diese Straße, diese gebaute, idealisierte Oststraße. Am Ende zieht sich dann die Kamera in einer langen Fahrt nach zurück und der Betrachter soll so eine Wehmut empfinden, weil die Straße leer ist, er soll gerne mögen, daß die Menschen da wieder wohnen und daß die Geschichten weitergehen. Das Problem war eben, daß das Buch am Anfang für mich als Regisseur keine Identifikationsfigur hatte. Die Figur, die dort beschrieben war, ähnelte vom Temperament und vom Charakter her, ob er's nun will oder nicht, sehr dem Thomas.
Brussig: Ach ja?
Haußmann: Ja. Auch wenn Du nicht über Dich schreibst. Es war auch klar, daß dieser Junge, diese Hauptrolle, so wie sie jetzt geschrieben und besetzt ist, kein Gewinner ist. Er sollte dem Jugendideal, das heute in den Filmen propagiert wird, etwas entgegensetzen, ein neues Ideal. Ich bin auch stolz auf diese jungen Schauspieler, die wir da herausgesucht haben, den Alexander Scheer, die Teresa Weißbach, den Alexander Beyer und den Robert Stadlober. Das durfte auch niemand bekanntes sein, den man sich dann anguckt, um zu sehen, wie er das spielt.
Frage: Der Tanz durfte einem auch nicht bekannt vorkommen, oder?
Haußmann: Der Tanz ist von mir. Ich wollte irgend etwas haben, was so kultig ist, wie der Tanz in "Pulp Fiction". Mit den Jungs sind wir dann auch eine Woche weggefahren und haben geübt. Denen mußte man ihre runden Bewegungen abgewöhnen, die mußten eckig gehen und diese ganzen Ghetto-Bewegungen vergessen. Ich hatte auch einen gewissen missionarischen Eifer, daß man sich nach dem Film wieder zum Tanz auffordern will. Oder daß man sich wieder die T-Shirts selber bemalt. Das sind die kleinen Sachen, die ich so liebe, daß der sich auf dieses geriffelte T-Shirt selber "Rock Pop" draufgekritzelt hat - da könnte ich mich totlachen. Außer mir merkt das wahrscheinlich keiner. An diesen Geschichten haben wir lange gebastelt, das war eine schwere Arbeit. Wir haben auch sehr viele Geschichten übrig, die es wert wären, erzählt zu werden.
Frage: Welche zum Beispiel?
Haußmann: Zum Beispiel die mit dem Liebesbrief, der in den Todesstreifen fliegt. Das war immer eine meiner Lieblingsgeschichten.
Brussig: Micha hat gerade einen Liebesbrief gekriegt, den ersten seines Lebens. Und in dieser blöden Situation haut der ABV ihn an, der Liebesbrief fliegt ihm aus der Hand und in den Todesstreifen. Da liegt er dann.
Haußmann: Und die Kumpels versuchen....
Brussig: ...mit aller Macht....
Haußmann: ...diesen Brief wieder zu kriegen. Bei solchen Szenen war bei Thomas auch immer die voice over sehr präsent, der Erzähler, der dann sagt: "Dann waren wir an der Mauer und haben uns die Mühe gemacht..." Es ist ja klar, daß der Thomas das gerne schreibt. Aber mit der voice over kam ich nicht klar, das gebe ich auch zu.
Brussig: Ich liebe voice over!
Haußmann: Klar, da ist der Autor natürlich auch sehr präsent. Aber für mich als Regisseur....
Brussig: Der Regisseur ist doch so oft präsent! Laß' doch auch einmal den Autor präsent sein.
Haußmann: Ja, aber was soll ich als Regisseur die Leute im Bild denn machen lassen, solange der quatscht? Da können die doch nur rumsitzen! Ich mag es, wenn Szenen szenisch sind und sich selber erklären. Wir haben die Erzählerstimme ja auch drin gelassen, aber nicht so oft.
Brussig: Buck hatte auch gesagt, ich sollte mal eine Version ganz ohne voice over schreiben, einfach um die Szenen abzuklopfen, wie sie ohne das funktionieren würden. Das habe ich auch gemacht. Aber ich finde, voice over macht manches einfacher. Vieles erzählt sich geschmeidiger und effektiver, man kann bessere Überleitungen herstellen. Wenn man zum Beispiel in der Szene mit dem Liebesbrief sagen würde: "In solchen Momenten ist man schrecklich alleine" – das finde ich schon gelungen.
Haußmann: Aber es muß nicht sein. Daß eine einführende Stimme sagt, daß man in dieser Straße Songs hört, die verboten sind, weil man eben nicht weit von der Mauer lebt – das ist als Orientierungspunkt gut. Aber es waren auch viele Dinge drin, wo man sich fragte, lohnt sich das szenisch? Lohnt es den Aufwand, das zu erzählen? Wenn ihm drüben zum Beispiel sein alter Schuldirektor um den Hals fällt.
Brussig: Damit hatte ich auch gar keine Probleme. Und natürlich war das auch wichtig, daß Leander sagte, was er wollte, und ich aufsprang und versuche, ihm etwas anzubieten. Das ist klar, daß bei so einer Arbeit der Stoff, der von mir kam, irgendwann er auf Leander übergehen muß. Er ist derjenige, der ihn am Set und später auch im Schneideraum meistern muß. Dieses Abgeben gehört einfach zum Berufsbild des Drehbuchautors.
Frage: Was war das schwierigste an diesem Stoff?
Haußmann: Am Anfang die Struktur. Mir geht es in Episodenfilmen oft so, daß ich irgendwann die Lust verliere, weil ich keinen habe, an dem ich mich halten kann, mit dem ich mitgehe. Eine Figur, die mir auch sympathisch ist, die durch diese Geschichte durchläuft.
Brussig: Ich glaube, daß das wirklich komplizierte an diesem Stoff war, den Geldgebern klarzumachen, daß hier ein Film entstehen soll, der irgendwie nicht ins Bild paßt. Das ist eben nicht ein DDR-Film wie "Nikolaikirche", hier die Bürgerrechtler mit den Kerzen, dort die bösen Funktionäre. Und auch nicht wie "Das Versprechen", wo die Klischees so geballt auftreten. Die Finanzierungsgremien wußten eben nicht, wie sie "Sonnenallee" bewerten sollen.
Frage: Weil es eben kein eindeutiger Ost-Film sein sollte....
Brussig: Und wenn, dann haben sie Atze Brauner im Ohr, der sagt, so etwas geht sowieso nicht.
Haußmann: Unser Problem war ja auch: wie kriegen wir diese ganzen Geschichten unter und schaffen es trotzdem, daß man sagt: hoffentlich kriegt er die Schulschöne. Daß man immer in die Nebenstraßen einbiegen kann, ohne die Hauptstraße wirklich zu verlassen. Ich wollte auch, weil ich vom Theater kommen, in dem Film einen richtigen emotionalen Höhepunkt geben. Ich sage mal ein Beispiel, wo auch unsere Zusammenarbeit sehr gut geklappt hat. Nämlich wie....
Brussig: Wie Wuschel erschossen wird?
Haußmann: Genau. Ich habe gesagt: wir brauchen einen Toten. Einen müssen wir opfern.
Brussig: Er sagte: an der Mauer sind Menschen umgekommen, das muß in diesen Film hinein. Er hat mich mit bebender Stimme angerufen und gesagt: paß auf: Wuschel ist tot. Wuschel stirbt. Das ist die Figur, der immer nur eins im Kopf hat: er will dieses Rolling Stones-Doppelalbum erbeuten. Ich habe gesagt: Leander! Mach das nicht! Davon erholt sich der Film nie mehr, wenn dieser liebe Wuschel dort liegt und tot ist. Nicht Wuschel muß erschossen werden, sondern seine Platte - das ist eigentlich noch schlimmer. Das war ein richtig guter Moment: er hat mir einen Vorschlag gemacht, den erst einmal überhaupt nicht leiden konnte, und mir ist etwas eingefallen, womit das auch noch übertroffen wird und was uns dann beide überzeugt hat.
Haußmann: Ich hatte auch einen kleinen Dokumentarfilm über die Sonnenallee gemacht und dabei erfahren, daß es diesen Stromausfall an der Mauer, den wir auch im Film haben, wirklich gegeben hat. Die Leute haben mir erzählt, daß es nie mehr so ein schönes Feuerwerk gab, wie an dem Tag, an dem der Strom ausfiel, weil dann eben diese Leuchtraketen abgefeuert wurden. Ich dachte: das ist doch super – dieser Stromausfall muß in den Film, und es erwischt Wuschel innerhalb dieses Stromausfalls. Und die Emotion wird auf die Platte verlagert.
Frage: Man merkt: es war keine leichte Arbeit, all diese Geschichten in einer Straße unterbringen zu wollen....
Brussig: Die Idee zu "Sonnenallee" war ja schon alt, die hatte ich schon 1991 oder 1992. Ein Kritiker hatte mal geschrieben, man müßte einen Film über die DDR machen wie "Radio Days". Das hat mich sofort überzeugt – ein liebevolles, barmherziges Erinnern an eine Zeit, die vorbei ist. Da habe ich angefangen, Mauerepisoden zu sammeln und zu formulieren. Und die Sonnenallee bietet sich als Ort geradezu an, weil das so absurd ist: eine Straße, fünf Kilometer lang, und die letzten sechzig Meter sind im Osten. Das ist schon komisch.
Frage: Kanntet Ihr beiden die Sonnenallee schon zu Mauerzeiten?
Haußmann: Ich nicht. Mir wurde die Sonnenallee erst durch das Skript bewußt.
Brussig: Mich hat dieser Ort schon immer fasziniert. Schon in meinem ersten Roman habe ich den Haupthelden dort leben lassen. Da hat es zwar noch keine große Rolle gespielt, er hat das nur einmal reflektiert. Aber dieser Ort ist faszinierend, schon allein, weil die Straße auch noch Sonnenallee heißt: das kurze Ende der Sonnenallee, das hat auch etwas poetisches. So fing das an. Ich habe diesen Stoff auch immer geliebt und immer daran geglaubt. An "Helden wie wir" habe ich nicht so stark geglaubt, wie an "Sonnenallee". Wir hatten wirklich viele schöne Geschichten, das hatte so etwas buntes, pralles, es war turbulent – ich habe dieses Drehbuch echt geliebt. Das war dieser Punkt, wo wir das Buch beide gut fanden. Wir hatten es auch schon einmal in Bochum mit den Schauspielern zusammen gelesen. Und dann fährt Leander nach Berlin und kriegt hier von den Produzenten die kalte Dusche. Da war ich natürlich auch traurig. Es gab da noch einen anderen Produzenten, der das unbedingt machen wollte und ich hatte schon überlegt, ob man mit dem vielleicht einen neuen Anlauf wagt. Aber da hatte sich Leander schon mit Buck zwei Wochen zurückgezogen und das Drehbuch noch einmal völlig umgeschrieben. Dieses Drehbuch hat dann bei den Fördergremien das Geld geholt.
Frage: Wie unterscheidet sich Eure letzte Version von der mit Buck?
Brussig: Ich habe dieses Drehbuch eine ganze Weile nicht zu sehen gekriegt. Sie wußten wahrscheinlich auch, was sie mir damit antun. Als ich es dann gesehen habe, habe ich es erst einmal gar nicht kommentiert, weil ich auch wußte, daß sie das jetzt nicht hören wollten. Alle waren erst einmal froh, daß das Geld da war. Da war dieses Projekt auch an einem Punkt angekommen ist, wo die Intention des Autors keine Rolle mehr spielte. Wir haben darüber bis heute noch gar nicht gesprochen. Ich habe jedenfalls das Drehbuch gelesen, und für mich brach eine Welt zusammen. Ich fand das alles - jetzt müßte das Ding eigentlich ausgeschaltet werden, es geht ja hier darum, das Ding zu promoten - ich fand das stumpf. Da waren Szenen dabei, wo man einfach gemerkt hat, daß der Buck, dessen Filme auch diese bäuerische Stumpfheit haben, seine Finger im Spiel hatte und aus diesem bunten und prallen Leben etwas gemacht hat, daß stumpf und so ausrechenbar geworden ist. Er hatte auch eine Stasi-Geschichte drin, nach der Art: der beste Freund geht zur Stasi. Das hatte für mich so "Nikolaikirche"-Niveau, darüber habe ich mich nur geärgert. Ich habe Leander auch gesagt, daß hier ein Film entsteht, den ich mir nie wünschen könnte und über den ich mich sonst auch nur lustig gemacht hätte. Das war für mich ein schwieriger Punkt, weil ich mich überhaupt nicht mehr auf das gefreut habe, was da kommt. Dadurch, daß ich jetzt diese literarische Bearbeitung gemacht habe, kann ich das jetzt gelassener sehen. Und mit gutem Gewissen sagen: das ist jetzt Leanders Film oder der Film der Produzenten. Ich bin mit mir und mit Leander versöhnt. Wenn ich mich nicht hätte literarisch ausdrücken könnte, hätte ich das Gefühl, daß es mir weggenommen wurde. Das ist auch so ein zentrales Wort in der Beziehung zwischen Autor und Regisseur: das Wegnehmen.
Frage: Leander, wie würdest Du den Unterschied zwischen den beiden Versionen beschreiben?
Haußmann: Ich nehme das nicht so wahr wie Thomas, daher kamen auch die Mißverständnisse. Ich habe auch nicht diese emotionale Bindung, weil ich ja derjenige bin, der wegnimmt. Er muß damit klarkommen. Ich nehme, was er anbietet und das, wovon ich meine, daß ich mich damit identifizieren kann. Und das kommt dabei raus. An dem Punkt, wo gesagt wurde, das geht nicht, war auch ich am Ende. Da waren wir auf der gleichen Ebene, auch emotional. Für mich war das Projekt gescheitert. Und so etwas kann ich nur ganz schwer akzeptieren. Ich habe bisher jedes Projekt gemacht, das ich angefangen habe und noch nie in ein Projekt umsonst Arbeit investiert. Wenn ich es angefangen habe, dann wird das auch gemacht, Erfolg hin oder her. Wenn das hier nicht gemacht worden wäre – das wäre furchtbar gewesen, für alle Beteiligten. Am nächsten Morgen habe ich hier mit Boje gesessen und er sagte: das ist unser Film. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich auch aufgrund meiner Emotion das Gefühl: die wollen das gar nicht. Die wollen mich fertig machen. Aber als er das sagte, habe ich gesagt: gib mir noch einmal die allererste und die letzte Fassung. Damit bin ich eine Woche in den Urlaub gefahren. Ich wollte aber nicht, daß Thomas erfährt, daß ich daran wieder schreibe, und zwar sozusagen emanzipiert. Weil ich das Gefühl hatte: jetzt beginnt der Punkt, an dem ich Thomas hintergehen muß, um irgend etwas zu schaffen, um das Buch so an mich zu reißen, daß ich argumentativ stark bin. Dann habe ich drei Tage lang Szenen und Figuren noch einmal so entworfen, wie ich sie kannte. Das war der letzten Endes der überzeugende Schritt, daß weiter gearbeitet werden kann. Es kam noch dazu, daß Du ab einer bestimmten Zeit nicht mehr vollständig zur Verfügung standest, als wir Dich richtig gebraucht hätten. Sonst hätten wir Dich auch mitgenommen.
Brussig: Es hieß auch immer, der letzte Termin ist der 30. April.
Haußmann: Jedenfalls war es dann so, daß Buck und ich sehr glücklich über die neue Fassung waren. Das, was Thomas nämlich als bunt und prall beschreibt, hätte eben auch ganz schnell nicht bunt und prall sein können, sondern inflationär. Das hätte bei den Zuschauern zur Hälfte des Filmes schon Ermüdungserscheinungen hervorrufen können. Das war der Punkt. Hätten die Figuren wirklich etwas neues bringen können, sich überhaupt in irgendeine Richtung entwickeln, sich verändert? Das waren Sachen, die für mich szenisch interessant waren. Für den Autor ist vielleicht die Sprache interessanter. Mir geht es um die Emotionen in der Szene. Macht es mir Spaß, einen Szene zu inszenieren, oder ist es Arbeit? Habe ich Lust, auf das Set zu kommen, wenn Bergsteiger-Bernd sein Zeug auf den Tisch packt?
Brussig: Macht es Dir Spaß, eine Szene zu inszenieren, wo alle in der letzten Reihe sitzen und eine sagt: kommt doch alle nach vorne?
Haußmann: Das ist ja nicht geplant, sondern nur ein Detail dieser Szene.
Frage: Der Film kommt ja am 7. Oktober raus, dem 50sten Jahrestag der DDR-Gründung – an ihrem Geburtstag. Ihr hättet ihn auch am 9. November, dem zehnten Jahrestag des Mauerfalls machen können – an ihrem Todestag also. Feiert Ihr lieber Geburtstag, als Todestag?
Brussig: Natürlich! Die Filmschaffenden der DDR bündeln ihre Kräfte und präsentieren der Republik dieses Geburtstagsgeschenk.
Haußmann: Und benutzen dadurch die kostenlose PR-Maschinerie, die da angelaufen sein wird. Besser kann man es doch gar nicht haben, oder?
Frage: Ihr seid beide im Osten Berlins aufgewachsen - hättet Ihr Euch begegnen können?
Haußmann: Genaugenommen sind wir ja nicht in der selben Stadt aufgewachsen. Es ist mir auch ein bißchen peinlich, aber ich habe sehr lange in Friedrichshagen gelebt.
Brussig: Das ist wie Wannsee. Oder Grunewald.
Haußmann: Friedrichshagen war früher nicht Berlin. Deshalb haben die Friedrichshagener auch immer gesagt, sie "fahren in die Stadt", wenn sie nach Berlin fuhren. Später, mit 16 oder 18, war ich dann natürlich viel in der Stadt. Aber warst Du so einer, Thomas, der gerne in Cafés saß? Mit anderen Gleichgesinnten?
Brussig: Du hast ja vorher gesagt, Du hättest mich in Verdacht, daß ich Roter wäre. Ich gebe das jederzeit zu. Bis ich 16 war, war das mit mir ziemlich.....
Haußmann: ...schwierig?
Brussig: In der Hinsicht ja. Danach habe ich langsam auf die richtige Seite gefunden. Aber mit 16 war ich so rot wie diese Erdbeere hier.
Frage: Was heißt das genau?
Haußmann: Daß er eine Rote Socke war. Eine rote Rübe.
Brussig: Ich hatte zum Beispiel immer eine Funktion.
Haußmann: Ich hatte auch immer eine Funktion. Die mußte ich einfach haben, weil ich immer so ein schlechter Schüler war. Also habe ich immer versucht, meinen Notendurchschnitt über Funktionen zu verbessern, was mir auch oft gelang.
Frage: Was für Funktionen waren das?
Haußmann: Kulturobmann war ich oft.
Brussig: (lacht) Das ist ja das, was man heute ganz ohne Schaden zugeben kann: "ich habe mich um die Kultur gekümmert". Ich war schlimmer. Ich war Agitator. Und zwar nicht nur von der Klasse, sondern in der Neunten und Zehnten Klasse auch von der ganzen Schule.
Haußmann: "GOL"? Der "Schüler Grundorganisationsleitung"?
Brussig: GOL-Agitator, genau.
Haußmann: Ich hab's geahnt! (lacht)
Frage: Was machte ein Agitator?
Haußmann: Wandzeitung und sowas.
Brussig: Nein, das machte der Wandzeitungsredakteur. Der Agitator war zum Beispiel dafür zuständig, für irgendeine FDJ-Versammlung einen interessanten Gast oder Zeitzeugen einzuladen. Ich weiß noch, daß ich jeden Tag die Zeitung gelesen habe, die Junge Welt. Und wenn zum Beispiel Afghanistan in den Medien Thema war, habe ich mir überlegt, ob es irgendeinen interessanten Gesprächspartner gibt, der dazu etwas sagen kann. Das habe ich dann auch moderiert. Dann gab es auch noch die "Politinformation", das waren zehn oder zwanzig Minuten an einem Tag im Unterricht, einmal im Monat...
Haußmann: ...Mittwochs meistens...
Brussig: ...das habe ich immer mit viel Initiative gestaltet, einmal zum Beispiel mit einem Polit-Quiz. Aber mit 16 bin ich dann auf eine andere Schule gekommen , auf der ein ganz anderes Klima herrschte. Da war das mit dem Agitator vorbei.
Frage: Wie wurde man denn Agitator? Weil die Eltern zu Hause einen dazu ermunterten?
Brussig: Nein, meine Eltern waren nicht rot. Ich habe mich einfach für die Welt, in der ich lebte interessiert. Und diese Ideologie hatte für mich in ihrer Geschlossenheit etwas bestechendes. Bis ich ein gewisses Alter erreicht hatte, war die Kraft dieser Ideologie stärker, als meine Zweifel. Aber irgendwann eben nicht mehr. Ich glaube, es ging damit los, daß ich irgendwann angefangen habe, den Staat beim Wort zu nehmen. Und als ich dann bei der Armee war, ist das richtig umgeschlagen, als mir da alles so nackt und unverstellt begegnet ist. Da wußte ich, daß ich auf einer anderen Seite stehe, als "die".
Frage: Hattest Du auch eine sympathisierende Phase, Leander?
Haußmann: Nein. Ich wurde schon absolut anti-ostmäßig erzogen. Mein Vater haßte das System. Er war das, was man "gut drauf" nennt - da war immer sehr viel Alkohol im Spiel, viele Frauen und diese Geschichten.
Brussig: Mein Vater war das genaue Gegenteil: eine Frau, ein Glas Bier. Aber parteilos war er auch.
Haußmann: Naja, und im Zuge dessen hat man auch viele Widerstandsgruppen gegründet, und auch wieder aufgelöst. An solchen Abenden ist man eben vor die Prager Botschaft gezogen, 1968, und hat dort einen Blumenstrauß niedergelegt. Das hat sich dann ausgeweitet – mein Vater hat schon eine ziemlich dicke Stasi-Akte.
Frage: Thomas war also Agitator, weil er eine Zeitlang mit der Ideologie sympathisierte, während Du Deine Funktionen widerwillig als letzten Strohhalm in der Schule gesehen hast?
Haußmann: Das war schon schizophren: zu Hause wurde ich dazu erzogen, den Osten zu hassen, durfte auch kein Ostfernsehen gucken – es gab ewig den Satz: wer hat denn hier den Ostsender eingestellt?!
Brussig: Siehste, ich durfte kein Westfernsehen gucken.
Haußmann: Bei uns wurde auch oft gesagt: "scheiß Osten", für alles, selbst dann, wenn der Osten gar nichts dafür konnte.
Brussig: Das wurde bei uns nie gesagt.
Haußmann: Aber das Schizophrene bestand darin, daß ich mich in der Schule verstellen und das sagen sollte, was der Staatsbürgerkundelehrer von mir erwartete. Das konnte ich auch ganz gut.
Brussig: Das ist übrigens eine Erfahrung von vielen: zu Hause das eine, in der Schule das andere.
Haußmann: Bei mir war es aber immer so, daß man es mir nicht geglaubt hat, weil ich als Kind schon so eine Dandyhaftigkeit ausgestrahlt habe. Auch die entsprechenden Ämter, hinter denen ich mich zu verstecken suchte, halfen nicht. Ich weiß noch, daß ich später auch an der Schauspielschule versucht habe, mich bei der Direktion azubiedern, indem ich mich zum FDJ-Sekretär habe wählen lassen. Ich war aber nur zwei Wochen FDJ-Sekretär, weil sich Minetti weigerte, mit mir zu sprechen – ich mußte mich wieder abwählen lassen, weil ich nichts bewirken konnte.
Frage: In "Sonnenallee" gibt es als erzieherische Strafmaßnahme einen "selbstkritische Beitrag", also eine Rede, die man vor der FDJ-Versammlung halten mußte...
Haußmann: Ich weiß gar nicht, ob es das gab. Aber es gab auch Schulen, die nicht so streng waren, das lag auch immer an den Lehrern. Das war so ein bißchen wie in der "Feuerzangenbowle": es gab ganz scharfe Lehrer, aber auch diese Trotteltypen. Wenn sehr viele von der ersten Sorte an der Schule waren, dann mußte man ziemlich aufpassen. Unsere Schule war schon ziemlich scharf, glaube ich. Die haben zum Beispiel bei mir zu Hause angerufen und gesagt: "wir haben den Verdacht, daß Sie sehr viel Westfernsehen gucken".
Frage: Thomas, wie war Deine Schule?
Brussig: Ich habe am Alexanderplatz gewohnt, also in einer Vorzeigegegend, wo es größtenteils Neubauten gab, und wer da eingezogen ist, mußte irgendwie Vorzeigefamilie sein. Also nicht Stasi oder nur Partei, aber einen bestimmten Teil des Lebens gab es dort nicht, Alkoholiker, oder das Milieu von Leuten, die in der Gesellschaft nicht klarkommen. So etwas war völlig ausgeblendet in meiner Kindheit. Auf meiner Schule war ich umgeben von Kindern, die allesamt aus ziemlich harmonischen Familien kamen. Meine Eltern waren ja auch keine Bonzen, meine Mutter ist Lehrerin, mein Vater Bauingenieur.
Frage: War Friedrichshagen eine Bonzengegend?
Brussig: Ich würde mal sagen: in Friedrichshagen wohnten die, die mit dem Geld ganz gut klargekommen sind.
Haußmann: Nicht alle. Das war schon auch eine böse Gegend.
Frage: Wo gibt es bei Euch biographische Gemeinsamkeiten? Daß Ihr beide einen "ordentlichen Beruf" gelernt habt, Leander Drucker und Thomas Baufacharbeiter?
Brussig: Als ich das gemacht habe, dachte ich noch, ich will in meinem Leben richtig arbeiten, mit den Händen.
Haußmann: Komisch, das habe ich nie gedacht. Bei mir war das zwangsläufig.
Brussig: Außerdem war ich damals in ein Mädel aus meiner Klasse verknallt, und die hat in der selben Firma gelernt. Ich wußte auch, daß diese Berufsentscheidung für mein weiteres Leben keine Rolle spielen würde. Ich habe seitdem keine Kelle mehr angefaßt, könnte das auch nicht mehr. Aber diese Rudi-Arndt-Berufsschule, wo Leander gelernt hat, die war legendär.
Haußmann: Da gab es nicht einen, der den Beruf ergreifen wollte, für den er da war. Nicht einen!
Brussig: Drucker - das hatte etwas mit Büchern zu tun, und Bücher, das waren Schriftsteller, und Schriftsteller, das waren Dissidenten. Die, die da gelernt haben, versuchten, so nah wie möglich an die Quelle zu kommen, obwohl das der falscheste Punkt war! Da beneide ich Leander auch drum, wenn ich diese Geschichten höre, wer da alles gewesen ist und was das für ein Leben war – das muß ziemlich aufregend gewesen sein.
Haußmann: Das war auch meine wichtigste und schönste Zeit. Ich war zwischen 16 und 19. Das vermisse ich auch zum Beispiel bei den Schauspielstudenten im Westen: die wissen ja gar nichts, die kommen mit 16, 17 an die Schulen und fangen an, Menschen darzustellen. Da ist mir so jemand wie Florian Martens lieber - der war vorher Trekkerfahrer. Auf der Rudi-Arndt-Schule waren natürlich die meisten, die ein bißchen etwas in der Birne hatten, schlechte Schüler. Das war klar. Die wollten, wie Thomas schon richtig sagte, Maler werden oder Schreiber oder irgend etwas, was mit Papier zu tun hatte. Da sagte man: werd' doch Drucker. Oder Setzer. Und die kamen alle dahin, auf die Berufsschule vom "Neuen Deutschland". Das war die subversivste Vereinigung, die es gab....
Brussig: ... und die mußten das ND drucken!
Haußmann: Mein Notendurchschnitt war auch noch so schlecht, daß ich Tiefdrucker lernen mußte. Das war das schlimmste – von den Tiefdruckern, die ich kenne, leben die älteren nicht mehr. Unglaublich! Da wurde mit Lösungsmitteln rumgepantscht, daß alle dort Lösungsmittelsüchtig waren, von Xylol oder Tulol und wie die hießen. Vielleicht eine kleine Anekdote: Frank Koschke und ich kamen zu früh von der Mittagspause in dieses Riesenhalle, in der zwanzig Druckmaschinen standen, MAN-Maschinen von 1930, so groß wie Lokomotiven. Darin gab es diese Farbwerke, in denen die ganze Zeit die Farbe bewegt wird. Wir standen in der großen Halle, es war sehr still und man hörte nur diese Pumpen von den Farbwerken, und Frank sagte nur zu mir: "Hemmung?" Wir blickten beide auf die Wand mit den großen Umlegeschaltern. Er nahm zwei, ich nahm zwei, und dann drückten wir die runter, wuuusch! Darauf war Stille in der gesamten Fabrikhalle. Es machte nur noch ssssssssss. Sonst passierte nichts. Und dann guckte ich runter und sah, wie sich zu meinen Füßen eine riesige schwarze Masse ausbreitete: aus allen zwanzig Maschinen liefen die Farben aus, weil die Pumpen nicht mehr arbeiteten. All die Farbwannen liefen über und vereinten sich zu einer einzigen Farbe, unglaublich schnell. Auf vielleicht tausend Quadratmeter stand plötzlich bis über die Knöchel hoch Farbe. Stell Dir vor: Du stehst in einer Bahnhofshalle und hast die unter Farbe gesetzt - ein Alptraum! Dann kam der Meister hoch, er war immer der erste nach der Mittagspause. Der drehte sich an der Tür nur um und sagte zu denen, die hinter ihm kamen: "Mittagspause hat sich verlängert". Und ging wieder. Dann haben wir drei Schichten lang diese Halle sauber gemacht - ich hatte noch nie einen so schönen Rausch! Dann kam man ja noch zur Armee. Bis man sich also überhaupt der geistigen Elite zugehörig fühlen konnte, mußte man durch einige Gefahrenzonen. Wobei es mir in der Armee nicht so schlecht ging.
Frage: Wo warst Du?
Haußmann: An der Ostsee. Das war auch so ein bißchen Schweikmäßig. Nach der Grundausbildung kam die große Verteilung, und ich hatte schon gehört, daß ich womöglich nach Warnemünde komme, als Drucker in eine politische Einheit, die Flugblätter druckt und über dem Feindesland abwirft. Aber dann kam ich wegen eines Irrtums in die Buchbinderei, weil die nicht wußten, daß Buchbinderei und Tiefdruck nicht dasselbe ist. Das ist etwa so, als wenn man einen Bäcker zum Fleischer macht. Ich habe das auch nicht aufgedeckt, eineinhalb Jahre lang nicht.
Frage: Also keine Flugblätter für das Feindesland?
Haußmann: Nein. Aber ich hatte zum Beispiel einen Korvettenkapitän, der war Arzt. Der hatte sich von drüben fotokopierte Fachliteratur besorgt und mich gefragt, ob ich sie nicht zu einem schönen Buch binden könnte, es sollte mein Schaden nicht sein. Ich stand einen Monat vor der Entlassung, hatte einen Lehrling -dem hatte ich beizubringen, was ich nicht konnte – und habe natürlich zugesagt. Also habe ich versucht, die Buchbinderei zu erfinden, fragen konnte ich ja niemanden. Ich habe das Zeug erst einmal in meine Lieblingsmaschine getan, das war die, mit der man das Papier geschnitten hat, mit einem schönen Hebel, und alles war ganz glatt und ordentlich geschnitten. Dann habe ich es rausgenommen, hinten schön mit Leim eingestrichen und dann aus kleinen Papierstückchen einen Buchrücken geformt. Bis dahin war alles okay, mein Lehrling stand neben mir und hat mir auf die Finger geschaut. Ich habe das Buch in die Presse gelegt und mit wichtiger Miene gesagt: das bleibt jetzt eine Woche da drin. Nach einer Woche habe ich es rausgenommen – sah gut aus, richtig kompakt. Ich blättere es auf und es zieht sich richtig in die Länge, zwischen den einzelnen Seiten entsteht so ein Zwischenraum, Du schlägst das Buch auf und das wird immer länger.... Ich habe es ganz schnell wieder zugeklappt, schwitzte auch schon, der Lehrling neben mir, und erst einmal wieder geschnitten. Jetzt fehlte schon ein Buchstabe des letzten Wortes. Nach einer Weile habe ich es wieder aus der Presse genommen, da war das Buch in Stufen. Also noch einmal nachgeschnitten. Jetzt fehlten schon zwei, drei Wörter hinten. Das war gottseidank schon zwei Tage vor meiner Entlassung, und dieser Korvettenkapitän fragte schon die ganze Zeit: ist es denn jetzt fertig, Genosse Haußmann? Ich habe geantwortet: ein gutes Buch braucht seine Zeit. Dem dem Lehrling habe ich gesagt: in einer Woche kannst Du es rausnehmen. Das muß ein tierischer Skandal gewesen sein. Überhaupt, als man meine Hinterlassenschaft ordnete: verbrannte Schlafsäcke, verschimmelte Reste...
Frage: Thomas hatte weniger zu lachen, oder? Du warst bei der Bereitschaftspolizei...
Haußmann: Natürlich! (lacht sehr)
Brussig: Ich war ein Vierteljahr bei der Bereitschaftspolizei, strafversetzt. Das war eine böse Geschichte: ich hatte Tagebuch geführt, und das war verboten. In meiner Abwesenheit ist mein Schrank durchschnüffelt worden und dieses Tagebuch wurde gefunden. Das ist dann richtig an die große Glocke gehängt worden, mit Militärstaatsanwalt und so.
Frage: Was stand in diesem Tagebuch, daß es so brisant war?
Brussig: Mein Bruder, zwei Jahre jünger als ich, machte gerade in der GUS sein Abitur. Der hatte sich breitschlagen lassen, sich drei Jahre zu verpflichten. Als ich mit dem Wehrdienst angefangen habe, war mir schnell klar, daß schon anderthalb Jahre schlimm genug sind. Da habe ich angefangen, das, was ich erlebte, aufzuschreiben und festzuhalten, damit ich es ihm möglichst gut erzählen könnte. Ich wollte einfach, daß mein Bruder nicht drei Jahre zur Armee geht.
Frage: Es war also ein tendenziös geführtes Tagebuch?
Brussig: Jeder Mensch, der ein Herz in der Brust hat, wird die Armee hassen. Ich bin da auch überhaupt nicht klargekommen, hatte auch einen sehr scharfen Kompaniechef. Das war der erste Faschist, den ich kennengelernt habe. Bismarck hieß der auch noch.
Haußmann: Wir hatten auch einen - der hieß Freisler...
Brussig: Der hat jedenfalls immer die anderen Kompanien herausgefordert, im Kampf um den besten Titel. Das war die Zeit der Friedensbewegung, ich hatte lange Haare, bis hierhin (zeigt bis knapp oberhalb der Brust), fand BAP gut und paßte überhaupt nicht in diese Kompanie.
Haußmann: Meine Haare wurden leider nie so lang. Die kräuseln sich ab einer gewissen Länge.
Frage: Stimmt es, daß dieses Tagebuch zu Deiner ersten Begegnung mit einem Stasi-Offizier geführt hat?
Brussig: Es war nicht die erste Begegnung, aber das war eine Situation, in der ich erpressbar war. Ich bin sogar selber zu dem Stasi-Offizier gegangen und war im Grunde innerlich bereit, mitzumachen. Ich wußte, daß die Sache an einen Militärstaatsanwalt gegangen war, ich wußte, daß ich zwei Tage später zu dem Sauhaufen in eine andere Stadt versetzt werden würde, und das konnte nur bedeuten, daß ich unter Anklage gestellt werde. Ich hatte richtig Angst. Dazu kam noch, daß ich in dieser letzten Woche seit der Entdeckung richtig übel behandelt wurde. Ich hatte keine freie Minute mehr, die haben mich sogar nicht mehr schlafen lassen. Nachts haben die mich nach zweieinhalb Stunden aus dem Bett geholt, dann mußte ich putzen. Ich konnte nicht mehr, ich war nicht mehr ich selbst. Deshalb kann ich gut verstehen, wie Leute in so einer Situation nachgeben. Ich erzähle diese Geschichte, ohne, daß mir das jemand nachgewiesen hat, weil ich finde, daß das auch eine DDR-Geschichte ist. Das hat etwas mit Angst zu tun, aber auch mit jeder Menge Fiesheit, Niedrigkeit: in Abwesenheit von jemanden den Schrank zu durchsuchen und ein Tagebuch zu lesen, es vor der Kompanie laut vorzulesen. Das ist doch ziemlich schäbig. Bis jetzt haben wir hier ja viel gelacht, jetzt sind wir auf dieses Tagebuch zu sprechen gekommen, und ich kann immer noch nicht darüber lachen. Aber dieser Stasi-Offizier - das war ganz ulkig und das paßt auch gar nicht in das Bild - der hat mir die Angst genommen. Der hat gesagt: "wie ich die Sache einschätze kommt nichts nach. Benehmen sie sich ordentlich am neuen Standort."
Frage: Du wärst bereit gewesen, Dich als IM anwerben zu lassen?
Brussig: Ja.
Haußmann: Es gab dieses Schwedt, das war die große Angst von allen.
Brussig: Ja, dieser Armee-Knast. Ein Monat Schwedt, das hätte noch mein alter Garnisonschef entscheiden können. Wenn mich aber der Armeestaatsanwalt angeklagt hätte, dann wäre es mindestens ein Vierteljahr gewesen. Und diese Zeit hätte ich auch noch nachdienen müssen, wo ich das alles auch so schon zum Kotzen fand, schlimmer: diese Armeezeit ist eine Erfahrung in meinem Leben, die ich am liebsten streichen würde. Kann ich aber nicht. Ich hatte Angst und wollte das nach Kräften vermeiden. Den Begriff IM gab's damals ja noch nicht, die hießen Zuträger, und ich war innerlich bereit, mich als Zuträger anwerben zu lassen. Ich wollte dann aber auch den Kontakt zu allen Leuten abbrechen, die in einer interessanten Szene waren. Wenn ich angeworben worden wäre, dann hätte ich Leander nach meiner Armee-Zeit nicht begegnen können, weil ich mich erst gar nicht in solche Kreise begeben hätte. Aber dieser Stasi-Offiezier hat gesagt, da käme nichts mehr. Er kannte den Fall, kannte auch das Tagebuch, und sagte nur, ich solle einfach am neuen Standort keinen Mist bauen. Er hat mir also die Angst genommen und sie auch nicht mißbraucht.
Frage: Entgegen allen Klischees .
Brussig: Ja, genau. Deshalb ärgert mich das auch so, daß diese ganze Diskussion immer nur auf die Stasi-Leute zugespitzt wird, daß man auf die mit dem Finger zeigt. Ich finde, ein hundertfünfzigprozentiger Lehrer oder so ein Faschist bei der Armee konnte viel mehr Schaden anrichten.
Frage: Bei aller Unterschiedlichkeit zwischen Euch schient das eine Gemeinsamkeit zu sein: Leander hat einmal auf die Frage nach dem Fehler, den er am ehesten entschuldigen würde, geantwortet: "Verrat aus Angst". Gibt es also doch so etwas wie eine "Ossi-Mentalität", etwas, was Euch verbindet?
Brussig: Wir haben eine ähnliche Herkunft.
Haußmann: Was wir beide wahrscheinlich gemeinsam haben, ist der ironische Blick zurück. Mir geht ja dieses Rumheulen so tierisch auf den Sack, oder wenn einer mal in einer Friedensbibliothek gearbeitet hat und daraus jetzt eine Art zweiten Berufszweig macht und sich im Nachhinein wichtig tut. Letzten Endes ist man ja nicht an die Grenze des Möglichen gegangen, um das System zu verändern. Auch ich nicht. Insofern hat man sich mehr oder weniger schuldig gemacht. Klar, man war in diesen Kreisen und hat sich verweigert, aber niemand wäre gerne dort in das Gefängnis gegangen. Ich weiß auch ich nicht, wie ich reagiert hätte. Ich würde zwar von mir behaupten: nein, ich hätte das nie gemacht. Ich aber weiß nicht, wo der Druck so stark gewesen wäre, daß ich mich arrangiert hätte.
Frage: In der Schulzeit warst Du aber scheinbar der größere Opportunist, hast Funktionen übernommen, um in in eine bessere Lage zu kommen...
Haußmann: Ja, aber ich war auch ein Feigling. Ich bin halt so ein Charakter: unbeherrscht, kann die Schnauze nicht halten, aber ich habe mich oft darüber geärgert. Es ist ja nicht so, daß wir die Helden waren, sondern wir haben uns auch oft über uns geärgert: scheiße, jetzt habe ich mir wieder etwas verbaut. Der Alltag war in gewisser Weise amüsant, wenn man Humor hatte. Mir sind auch bei der Arme in hohen Offizierskreisen patente Typen begegnet. Sonst wäre ich auch in Schwedt gelandet, bei dem, was ich mir teilweise erlaubt habe. Irgendwie hatten die doch ein Herz für mich und haben mich geschützt. Jetzt kommen so langsam die Seiten der Stasi-Akte von der Gauck-Behörde, die ich bestellt habe, und da gibt es einen Bericht über mich...
Frage: Hast Du nicht vor nicht allzulanger Zeit gesagt, Du wolltest Deine Akte nicht lesen?
Haußmann: Schon. Aber jetzt interessiert sie mich doch. Und da gibt es von einem Mitkommilitonen eine Beschreibung meine Charakters, die ist so voller privatem Haß geschrieben - das verzeihe ich nicht.
Frage: Was steht da drin?
Haußmann: Das kann ich nicht wörtlich wiedergeben, aber man riecht richtig den Haßspeichel, der auf das Papier getropft ist. Ganz ähnlich dem, was Kritiker heutzutage teilweise über mich schreiben....
Brussig: Das ist übrigen tatsächlich mal passiert. Die Autorin Grit Poppe, die Tochter von Gerd Poppe, hat ein Buch geschrieben, das wurde kritisiert von ihren ehemaligen IM. Das muß man sich mal vorstellen! Und er hat es verrissen.
Haußmann: In meinem Zusammenhang wurde oft der Begriff "sophistisch" benutzt...
Frage: Genosse Haußmann, der Wortverdreher?
Haußmann: Genau. Ich sei ein notorischer Lügner und versuchte immer, mich überall durchzuschmuggeln. Ein geiler Satz war auch: "Die Taktik des Überholens von links ist dem Haußmann nicht fremd".
Brussig: "Dem Haußmann!" (lacht) Dem H. wahrscheinlich....
Frage: Wie sieht Deine Akte aus, Thomas?
Brussig: Meine Stasi-Akte ist nicht dick. Es gibt sie - ich war sehr erleichtert... und ich habe mich sehr amüsiert. Andere haben andere Erfahrungen, aber ich fand, daß meine Stasi-Akte etwas komisches hatte. Mit welcher Beflissenheit unwesentlich Dinge von Kleingeistern hinausposaunt wurden...
Haußmann: Und so schlampig recherchiert! Da steht bei mir zum Beispiel: "Ob Haußmann Kontakte zum nichtsozialistischen Ausland hat, ist uns nicht bekannt." Also, wenn etwas bekannt hätte sein können, dann das!
Brussig: Vielleicht war das ja einer, der es gut mit Dir meinte.
Frage: Alles, was Ihr bisher erzählt habt, hat zwei Seiten: eine burleske und eine harte....
Haußmann: Mein Vater kann heute noch nicht lachen. Er nimmt mir auch ein bißchen übel, daß wir einen lustigen Film gemacht haben.
Frage: Hat er Dir auch übel genommen, daß Du dafür auch noch die Mauer wieder aufgebaut hast?
Haußmann: Er war dann jedenfalls beruhigt, daß es im Film auch eine tragische Stelle gibt.
Brussig: Deshalb wollte ich auch dieses "Radio Days"-Konzept, um zu zeigen, daß die Verletzungen, die uns die DDR angetan hat, nicht so groß sind, daß diese Wunden nicht heilen können. Daß wir darüber auch lachen können. Das ist doch auch eine gewisse Lebensleistung.
Haußmann: Eigenartig an diesem Film ist, daß er jetzt durch den Schnitt und die Musik auch ein melancholischer Film geworden ist. Das war nicht beabsichtigt, aber diese Nebenwirkung finde ich gar nicht schlecht.
Frage: Ihr hättet Euch auch den Vorwurf einhandeln können, der Film verharmlose die DDR...
Haußmann: Die Dinge, die da passieren, sind teilweise schon unmöglich - nur werden sie nicht so herausgestellt. Daß da zum Beispiel ein Polizist laufend den Ausweis von jemandem kontrolliert und verhindert, daß der zu seiner Freundin kommt und den dann auch verhaftet – daß so eine Willkür möglich ist, daß ein Staat so etwas zuläßt, das finde ich schon unmöglich. Nur kommt es lustig daher. Aber die Deutschen denken ja immer, wenn sie lachen, daß sich dahinter nicht noch etwas tragisches verbergen kann. Sie mögen es gerne traurig oder lustig. Mit dem dazwischen haben sie immer ein Problem.
Frage: Ihr beschreibt ja das Erwachsenwerden, die Welt von Teenagern mit ihren Teenager-Problemen. Habt Ihr als Ossis da grundsätzlich andere Erfahrungen gesammelt, als ein Wessi wie Detlev Buck zum Beispiel?
Haußmann: Buck ist ja auch mehr oder weniger ein Ossi. Detlev ist ein Dorfmensch, und Ossis waren auch Dorfmenschen. Der ganze Osten war ein Dorf, von der Mentalität.
Brussig: Provinz, ja.
Haußmann: Und teilweise vollkommen weltfremd. Selbst in der Kunst - wenn man sich ansieht und liest, was in dieser Zeit geschrieben worden ist, diese furchtbaren Gedichte!
Brussig: Und wir haben uns so wichtig dabei gefühlt....
Haußmann: Das ist übrigens noch drin, Thomas, der Satz: "Mann, was haben wir die Luft bewegt." Das ist jetzt der letzte Satz.
Frage: Wo kommt der her?
Brussig: Das kommt daher, daß man mal wieder philosophiert und gelabert hat und wieder waren dabei war, die Welt zu erklären. Und das doch alles so unwichtig war, weil man ja weiß, daß das dann alles vorbei war.
Frage: Wenn Detlev Buck ganz ähnliche Erfahrungen gesammelt hat, was macht "Sonnenallee" dann zum Mauerfilm?
Brussig: Jeder Mensch ist irgendwo Zuhause, und diese Erfahrung, irgendwo aufzuwachsen, ein Mädel zu vergöttern, an das man nicht herankommt, das kennen viele. Wenn das Ganze dann an einer Mauer spielt, durch diese Mauer auch noch behindert wird, wenn da zum Beispiel ein Liebesbrief in den Todesstreifen flattert, dann ist das spezifisch. Vielleicht geht es auch darum: jeder Mensch erinnert sich gerne an die Kindheit oder Jugend.
Haußmann: Wenn ein Junge zum ersten Mal ein Mädchen sieht - das ist etwas, was jeder versteht. Das hat jeder ähnlich und doch unterschiedlich erlebt. Als wir diesen Film einigen Leuten vorgeführt haben, gab natürlich einen Unterschied zwischen West- und Ost-Zuschauern: sie lachen an unterschiedlichen Stellen. Bei den Ossis ging das nur so: "ey, guck mal, den Kassettenrecorder hatte ich auch mal!"
Brussig: Es gibt diese Wiedersehensfreude mit dem Inventar, mit dem man aufgewachsen ist.
Haußmann: Auch mit den Worten. So etwas wie "Eingabe", das hatte man lange vergessen, das Wort. Wenn das auftaucht löst das natürlich bei uns Erinnerungen aus.
Brussig: "Schulspeisung" ist mir letztens wieder untergekommen, noch so ein tolles Wort.
Haußmann: Aber die "Einstürzenden Neubauten", die größtenteils die Musik zum Film gemacht haben, hatten auch sehr großen Spaß daran und fanden ihn sehr poppig. Für die stellt das eine Art neuer Popkultur dar, eine sehr spezielle Welt. Aber die Erfahrung, den ersten Song zu hören, ist zum Beispiel etwas, das wir alle gleich haben. Nur, daß wir die Songs etwas verspätet gehört haben und es für uns auch schwierig war, die Sachen zu beschaffen. Die Huldigung an die Platte, die in "Sonnenallee" vorkommt, kann auch jeder nachvollziehen. Eine Schallplatte war für einen Wessi vielleicht nicht ganz so wertvoll wie für einen Ossi, aber dadurch, daß genau diese Huldigung im Film so potenziert ist, kann jeder diese Liebe zur Platte nachvollziehen. Dieser Film ist nicht speziell für Ossis gemacht.
Brussig: Ich habe ja immer gesagt, das soll ein Film werden, bei dem die Westler neidisch werden, daß sie nicht im Osten leben durften.
Frage: Ein paar Dinge, die Du vorhin vom Osten erzählt hast, machen uns aber weniger neidisch...
Brussig: Vielleicht. Aber ich sage trotzdem: man erinnert sich gerne. Die Erinnerung ist ein Zug am Menschen, der die Vergangenheit schön färbt. Das, was nicht so schön war, vergißt man. Erinnern ist doch das Gegenteil von Merken.
Haußmann: Der Film hat auch etwas wie die "Feuerzangenbowle": das ist auch ein total erdachter Film, aber wenn man ihn heute als junger Mensch sieht, ist man neidisch auf die Schulstruktur in der die waren, in der es noch möglich war, sich zu widersetzen. Ich frage mich immer, woran sich einer erinnert, der jetzt in den Neunziger Jahren groß wird: der hat keinen Streß mit den Lehrern mehr, nachdem die durch die Sechziger Jahre alle liberalisiert sind....
Frage: Natürlich haben die heute auch noch Streß.
Brussig: Aber anders. Der Lehrer ist heute nicht mehr der Feind.
Haußmann: Wenn ein Lehrer zum Beispiel über eine Theateraufführung sagt: da gehen wir nicht rein, die ist nicht gut, dann gehen die heute auch nicht rein. Für uns wäre das damals eine Aufforderung gewesen, erst recht hineinzugehen. Auf so etwas ist man, glaube ich, neidisch. Ossis haben auch viel schönere Geschichten zu erzählen. Das fällt mir auf, wenn ich mit Schauspielern aus Ost und West zusammensitze und diese DDR-Geschichten auftauchen; da hat schon der eine oder andere gesagt: ihr habt es aber gut gehabt, ihr habt Geschichten zu erzählen, die lustig sind. Im Westen gab es weniger Gemeinschaftserlebnisse. Vielleicht in den Sechziger Jahren gerade noch, wo man zusammen auf einer Demo war und ein Ei geschmissen hat. Aber so einen ABV, den hatte jeder, und über kann jeder etwas erzählen. Den gab es im Westen eben nicht.
Frage: ABV ist der Abschnittsbevollmächtigte - das "lernen" Wessis in Eurem Film...
Haußmann: Ja, und der ABV war irgendwie überall gleich. Das war eine voll lächerliche Figur, ein Loosertyp. Allein eine Studie über so einen Abschnittsbevollmächtigten ist unglaublich.
Frage: Was ist noch spezifisch "Ost" - die Sprache?
Brussig: Dafür hatten Westler Comics.
Frage: Die Phantasie, die bei Euch angeblich größer war, weil Ihr weniger von Konsum umzingelt wart?
Haußmann: Also, ich bin schon ganz schön froh um den Konsum hier.... Ich muß auch sagen, was wir damals an Sachen konsumiert haben... es heißt zwar, Alkohol ist ungesund, aber was wir konsumiert haben, das war nicht nur ungesund, das war fast tödlich, wenn man das weiter getrunken hätte. Wie hieß das eine noch?
Brussig: Faustan.
Haußmann: Genau, Faustan. Das hat man zerstampft und in Cola gemischt.
Brussig: Oder in Alkohol, dann war es noch besser.
Haußmann: Das war ein Bindemittel und eine beliebte Ersatzdroge. Es war aber nicht wirklich zu empfehlen, weil es sehr starke Nachwirkungen hatte. Man war zwei Stunden gut drauf und zwanzig Stunden ausgeschaltet.
Frage: Habt Ihr als Jugendliche im Osten politischer gedacht?
Brussig: Auf jeden Fall.
Haußmann: Da kam man ja nicht dran vorbei. Man wurde überall gequält, wo man auch war.
Brussig: Das war ein politisiertes Leben. Man konnte nicht reisen, aus politischen Gründen, und als junger Mensch will man eben die Welt sehen. Eigentlich wurde alles, was man tat, politisch gefärbt, egal, ob es gut oder schlecht war. Es wurden ja sogar die Russsich-Zensuren politisch bewertet: FDJ-Gruppen haben sich verpflichtet, einen bestimmten Notendurchschnitt im Fach Russisch zu kriegen, und wenn jemand überall einser und zweier hatte, und nur im Fach Russisch eine drei, dann wurde auch gefragt: was ist denn das für ein Kandidat? Hat der was gegen die Russen?
Frage: Erfolgreiche Ossis unserer neuen Republik, Leute wie Kai Pflaume, sagen auch: Ossis sind die besseren Liebhaber....
Haußmann: Was??? Sagt der das??? Da habe ich andere Sachen gehört.
Brussig: Vielleicht liegt das an Dir.....
Frage: Die Argumentation geht so: Sex war der einzige Bereich, in den der Staat nicht eingreifen konnte, und deshalb hat man sich dort besonders ausgelebt.
Haußmann: Das schon. Aber ich weiß nur, daß viele Freunde, die damals rübergingen, unglaubliche Schwierigkeiten hatten, im Westen an die Frauen heranzukommen.
Brussig: Ich fand es nach der Wende auch erst einmal viel schwerer, damit klar zu kommen. Das merkwürdige ist, daß das aber auch wieder lief, als ich dann plötzlich Erfolg hatte.
Haußmann: (lacht) Komisch, wa? Siehste mal, es kommt eben doch auf die inneren Werte an.
Brussig: Eben nicht. Der Erfolg macht mich ja nicht innerlich wertvoller. Ich bin nur plötzlich im Fernsehen zu sehen.
Frage: Was ist sonst typisch für Ossi-Mentalität?
Brussig: Wenn man im Osten gelebt hat, hat man vielleicht ein gemeinsames Koordinatensystem, das man einmal miteinander geteilt hat. Man hat eine gemeinsame Herkunft. Trotzdem sind natürlich die Menschen im Osten genauso unterschiedlich, wie die Menschen im Westen.
Haußmann: Es gibt ganz furchtbare Ossis und sehr angenehme. Wenn man auf jemanden trifft, der sehr intelligent ist aber in tiefster Seele ein Gossenossi, so jemand wie Henry Hübchen, dann können das sehr lustige Abende sein. Wenn man aber auf jemanden trifft, der in jedem zweiten Satz sagt: "so ist das jetzt hier, naja, Du weißt schon", immer dieses komisch eingeschnappte, dann kann das ziemlich unerträglich sein. Was ich auch hasse, ist, daß viele ihre Unwissenheit zur Kultur machen. Wenn sie zum Beispiel keine Sprachen sprechen und versuchen, darauf stolz zu sein, anstatt das zu ändern. Oder wenn sie sich mit bestimmten Dingen nicht auskennen und das zum Credo und zur Lebensphilosophie erheben. Auf der andere Seite begegnet man auch Wessis, die genau das ausspielen, die sich wichtig tun, weil sie verschiedene Sorten Wein auseinander halten können. Das geht mir auch auf die Nerven. Das ist übrigens das, was ich dem Osten im Nachhinein am wenigsten verzeihen kann, das schlimmste, was er mir angetan hat: daß er mich nicht gezwungen hat, eine Fremdsprache zu lernen. Das nervt mich am meisten.
Brussig: Er durfte mit seiner vier in Russisch durchkommen.
Haußmann: Und ich muß heute jedes Wort schwerstens erkämpfen. Sie haben uns in einem gewissen Maße nicht auf diesen Alltag vorbereitet, der dann doch auf uns zugekommen ist.
Frage: "Sonnenallee" sollte kein "Ost-Film" werden...
Haußmann: Um Gotteswillen! Dagegen haben wir uns immer gewehrt, das ist doch Kassengift.
Brussig: Nicht nur, daß es Kassengift ist. So war es nie gedacht. Ich immer gesagt: es wird eine Mauerkomödie. Es geht überhaupt nicht darum, den Osten zu ergründen. Für mich sollte es eher ein Film über das Erinnern sein. Das durfte ich nun wieder nicht sagen, weil es Kassengift ist.
Haußmann: Ich durfte nicht sagen: Episodenfilm. Oder Chronik.
Frage: Worauf habt Ihr Euch also geeinigt?
Brussig: Leander, sag' doch Mauerkomödie. Dann sind wir aus dem Schneider.
Haußmann: Na gut. Aber es ist auch ein Teenagerfilm.
Brussig: Aber eine Mauerkomödie gibt es noch nicht.
Frage: Bedauert einer von Euch beiden, daß von der Mauer in Berlin so gar nichts übrig ist?
Brussig: Ja! Das ist so etwas von provinziell.
Haußmann: Das ist das größte Vergehen. Die in Babelsberg bauen "unsere" Mauer jetzt auch wieder weg und setzen stattdessen eine alte Wiener Straße dahin, weil sie denken, das ist schicker für ihre Studiotour. Sie hätten lieber die Mauer als Denkmal behalten sollen.
Brussig: Nicht unbedingt die in Babelsberg. Aber daß in Berlin nichts mehr davon zu sehen ist...
Frage: Erstaunlich ist, wie kurz diese 28 Jahre, in denen es die Mauer gab, tatsächlich sind im Vergleich zu dem Stellenwert, den sie in der deutschen Geschichte einnimmt. Die Schüler in zwei Generationen werden vielleicht schon denken, die Mauer muß es mindestens 100 Jahre lang gegeben haben....
Brussig: Das hatte man ihr ja auch prophezeit. Wie lange hat das Dritte Reich gedauert? Wie lange der Holocaust?
Frage: Inwieweit habt mit dem Film der DDR ein Museum geschaffen?
Brussig: Mir ging es darum, die DDR als Kulisse zu benutzen. Wie lange hat in Amerika die Prohibition gedauert? Keine 28 Jahre, vielleicht gerade mal 13 Jahre. Aber ein ganzes Filmgenre ist daraus entstanden, aus so einer historisch eigentlich ganz nebensächlichen Sache. Die Mauer war natürlich eine sichere Grenze, die zwei Weltsysteme voneinander getrennt hat, von Tausenden von Grenzsoldaten überwacht, tödlich zu überwinden. Als historisches Fakt hat das ein ganz anderes Gewicht, als so ein Alkoholverbot. Trotzdem haben die Amerikaner daraus ein ganzes Filmgenre geschaffen. Aber es gibt kaum Filme mit der Mauer. Das müßten die Deutschen eigentlich machen. Und so, wie die Prohibition diese Zeit damals verfälscht oder verzerrt hat, so darf man auch mit der DDR umgehen. Die DDR hinterläßt nichts, außer der Mauer und der Tatsache, daß sich eine ganze Gesellschaft so gegen ihre eigenen Interessen organisiert hat. Keiner wollte die Mauer, trotzdem hat es sie immerhin 28 Jahre gegeben. Aber sonst hinterläßt die DDR ja keine monströsen Fragen, wo man wirklich genau sein muß. Da darf man sich entfernen, ohne moralische Bedenken. Der DDR ein Museum bauen? Eher dem eigenen Erwachsenwerden. Meine Kindheit hat in der DDR stattgefunden. Das macht die DDR nicht besser. Aber ich erinnere mich trotzdem gerne an die Kindheit.
Frage: Bekommt diese Erinnerung nicht irreale Züge, da doch das Koordinatensystem völlig verschwunden ist, so wie die Mauer?
Brussig: Das ist auch für uns eine interessante Frage. Es wird immer schwieriger, sich genau zu erinnern. Das ist aber auch schön – so man kann loslassen und anfangen zu schwelgen. Die DDR ist nicht mehr da, man kann sich nicht mehr an ihr reiben. Und das Schöne an "Sonnenallee" ist, daß alle, denen ich dieses Drehbuch zu lesen gegeben habe, sich inspiriert fühlten, ihre eigenen Geschichten zu erzählen. Ich hatte das Gefühl, daß das etwas im Publikum trifft, daß jeder plötzlich anfängt, sich zu erinnern, egal, ob er im Osten oder im Westen groß geworden ist. Einfach Lust bekommt, etwas zu erzählen. Und das geht über den Film hinaus.

Frage: Bei "Helden wie wir" hast Du, Thomas, von "Wut und Enttäuschung" als Antrieb für das Schreiben gesprochen. Gab es das hier auch?
Brussig: Das war etwas, was sich über eine Zeit kurz nach der Wende gezogen hat, Wut über die nicht stattfindende Auseinandersetzung mit der DDR. Hier hatte ich wirklich das Gefühl, mit einer Lässigkeit und Leichtigkeit, mit einem Augenzwinkern über die Zeit zu erzählen. Das drückte Souveränität aus.
Frage: Und Ihr habt vergrabene Erinnerungen wiederentdeckt...
Brussig: Ständig. Heute ja auch – diese ganzen Stories von Leander. Darin bestand ja auch unsere gemeinsame Arbeit. Wir sind da nicht wie Drehbuchklempner rangegangen.
Haußmann: Für mich ist das ja eigentlich ein Serienstoff. Das könnte der Pilot für eine lange Reihe sein, es gibt noch so unglaublich viele Geschichten zu erzählen. Ich habe wirklich das Gefühl, daß ich daran anknüpfen könnte, zeitlich. Diese Szene, in der ich später gelebt habe, dieses Bohèmienleben, das ist wirklich eine Geschichte wert. Das sind dann die Erwachsenengeschichten, da geht's es wirklich zur Sache. Wie die Gruppe dezimiert wird, die Szene wurde ja immer halbiert, weil sie die eine Hälfte immer ausreisen ließen, und dann ging es von vorne los, die Karten wurden neu gemischt. Es gab auch immer solche Treffpunkte wie die "Tute".
Brussig: Ich habe über der "Tute" gewohnt. Ich bin da immer vorbei gegangen und fand die Typen die da saßen schrecklich. Ich habe sogar mal ein Gedicht geschrieben über die Typen, die in der Tute sitzen.
Haußmann: Im Stil von Erich Kästner schätze ich mal.
Brussig: Ja, genau! Das habe ich Dir erzählt, oder?
Haußmann: Nein, aber ich kann mir das genau vorstellen, Deine Kästnersche Ironie...
Brussig: Also die Leute, die ich kannte, die in die "Tute" gegangen sind, haben mich einfach angekotzt. Für mich waren das die, die ihre Funktion hatten und sich dann aber in der Tute wichtig taten. Das war auch zu Zeiten, wo ich schon keine Funktion mehr hatte.
Haußmann: Das war später bei Dir. Die richtige "Tute" war zu meiner Zeit, und Du bist ja vier, fünf Jahre jünger. Das ist ein Riesenunterschied.
Brussig: Ich habe das Gedicht 1983 geschrieben.
Haußmann: Warte – ich kam 1980 in die Armee. Meine große "Tute"-Zeit war während der Lehre, 1978/79. 1983 waren wir nicht mehr in der Tute.
Frage: Für alle, die die "Tute" nicht kennen...?
Brussig: Das Café zum Posthorn, "Tute" genannt. Da saß die Anarcho-Szene, Latzhosen und so.
Haußmann: Am Alex, unscheinbar in einer Ecke. Vor der Tür hing ein Riesenposthorn. Um 23:00, als die "Tute" zu machte, ging es noch rüber ins "Café Größenwahn", bis eins. Dann weiter ins "Fengler" , das hatte bis zwei Uhr auf. Und von da ging es immer in die Privatwohnungen im Prenzelberg. Was mir damals aufgefallen ist, war, daß die Wohnungstüren immer offen waren. Die waren nie abgeschlossen, man konnte in alle Wohnungen gehen.
Frage: Thomas, kannst Du Dir auch eine Fortsetzung von "Sonnenallee" vorstellen?
Brussig: Leander hat auf den Stoff nun mal sehr biographisch reagiert und sein Leben geht ja weiter. Ich kann mir schon vorstellen, daß er sich darüber Gedanken macht. Aber ich wollte eigentlich, daß mit diesem Film alles, was man zu dem Thema sagen kann, gesagt ist. So habe ich diesen Film auch betrachtet.
Frage: Ist Euch eigentlich aufgefallen, daß jeder von Euch dem anderen "vorwirft", die "Sonnenallee" sehr bigraphisch angelegt zu haben?
Brussig: Na, Leander weiß doch, daß ich da nicht mein Leben beschreibe.
Haußmann: Aber die Familie ist nicht meine Familie.
Brussig: Meine auch nicht.
Haußmann: Und Micha, das bin auf keinen Fall ich - dazu ist sein Horizont nicht weit genug. Aber natürlich ist alles, was man tut, irgendwie biographisch. "Kabale und Liebe" ist eine Biographie. "Sonnenallee" ist aber ein fiktiver Film. Auch wenn meine Mutter so heißt, wie die im Film, nämlich Doris.
Brussig: Die heißt tatsächlich Doris?? In meiner literarischen Version von "Sonnenallee" habe ich sie auch so genannt.
Frage: Der Film ist auch eine Rache, hat Leander einmal gesagt. Rache woran eigentlich?
Haußmann: Okay, ein paar Namen sind original. Unsere Direktorin hieß wirklich Witzeut, und das war wirklich eine Sau. Dagegen ist die im Film noch richtig menschlich. Unsere war eine dicke Chemielehrerin und hundertprozentig ohne Herz. Die wollte mich auch einmal in eine Anstalt stecken. Da saßen meine Eltern allen ernstes da, um sie herum die ganzen Klassenkretins mit einer schielenden, völlig abgedrehte Klassenlehrerin, und die behauptete, daß ich keine Zusammenhänge zur Realität hinkriegen würde. Die redeten allen ernstes darüber, ob es nicht besser wäre, mich in... naja, die redeten natürlich immer drumherum...
Brussig: Haben Deine Eltern nicht gesagt: wozu in eine Anstalt? Der geht später doch sowieso ans Theater...
Haußmann: Meine Mutter saß da und ich konnte genau sehen: sie verstand nicht. Ich wußte schon lange, worum es hier ging: die wollten mich in eine Schule stecken, in der geistig behinderte Kinder lernen durften. Meine Mutter hat dann irgendwann einmal gefragt: was meinen sie denn? Meinen sie, mein Sohn soll in die Klapper? Und die: nein nein, aber es gibt doch so spezielle Einrichtungen, und wir haben das Gefühl, ihr Sohn...alles in meinem Beisein!
Brussig: Die hielten dich für Verhaltensgestört.
Haußmann: Genau. Und der Osten hatte ja so eine gute Art, sich um verhaltensgestörte Kinder zu kümmern. Da war man ja nicht so sentimental wie im Westen.
Brussig: Ich sollte immer nur auf die Begabtenschule kommen.
Haußmann: (seufzt) Schon gut...