Der Schriftsteller über Heimat, trügerische Erinnerungen und den glücklichsten Moment im Leben
Sind Sie ein Heimatdichter, Herr Brussig?
Jeder, der es will, kann mich als Heimatdichter bezeichnen, aber ich käme nie auf die Idee. Es ist ja auch immer schön, für jemanden Begriffe zu finden. Es is natürlich chic und gegen den Strich, weil man bei Heimatdichter an Heidi und die Alm denkt.
Was verbinden Sie mit dem Begriff Heimat?
Für mich ist das Berlin. Hier kenne ich mich halbwegs aus. Hier komme ich klar. Nur im Winter, wenn man hier wochenlang die Sonne nicht sieht, habe ich manchmal Lust, irgendwohin zu gehen, wo es wärmer ist. Es gibt bestimmt schönere Orte auf der Welt als Berlin. Aber Berlin ist eineStadt,wo ich als Schriftsteller das Gefühl habe, dass ich etwas Außergewöhnliches vollbringen muss, um überhaupt wahrgenommen zu werden. Das Klima lädt nicht gerade zur Entspannung ein. Man muss nur durch die Straßen gehen und schon fühlt man sich motiviert: Komm aus dem Arsch, Junge. Lass dir was einfallen. Hier läuft dir nichts von alleine zu. Hier kannst du durchfallen.
Also eine fordernde Heimat.
Heimat ist natürlich ein geschundener Begriff. Es ist etwas, das zurückgeholt werden muss von denjenigen, die den Begriff missbraucht haben. Im Westen wird damit sofort Blut und Boden assoziiert. Im Osten sagt jeder, da gab es doch dieses Lied. Ich versuche es jetzt mal zu singen, drei Oktaven tiefer, (singt): Unsre Heimat, das sind nicht nur die Städte und Dörfer ... das sind nicht nur die Dings und Bums... Jedenfalls kommt irgendwann: Und wir lieben die Heimat, die schöne, und wir schützen sie, weil sie dem Volke gehört, weil sie unserem Volke gehört... - Ist das schön, dass ich dieses Lied nicht mehr zusammenkriege.
Sie sagen: "Am kürzeren Ende der Sonnenallee" ist in Literatur geronnene Nostalgie. Ein nicht eben positiv besetzter Begriff.
Ich war lange Zeit ein Gegner der DDR-Nostalgie, weil die dazu benutzt wurde, sich der nötigen Auseinandersetzung nicht zu stellen. Aber ich glaube mittlerweile, dass Nostalgie ein normales menschliches Empfinden ist. In der Erinnerung wird jede Vergangenheit schön und warm und heimelig - Opa fand ja auch den Ersten Weltkrieg prima. Erinnern ist immer Verklären, es geht mit dem Vergessen Hand in Hand. Die Erinnerung an die DDR ist umkämpftes Gebiet. Wenn sich Ostler gerne an früher erinnern, dann dürfen sie das, aber sie müssen wissen: Das macht die DDR nicht besser. Es liegt nicht an der DDR, sondern in der Natur des Erinnerns, dass die DDR plötzlich so viele gute Seiten hat. Und wenn Westler Ostler erleben, die sich gerne an die DDR-Zeiten erinnern, dürfen sie die nicht verdächtigen, dass die die DDR wiederhaben wollen.
Sondern?
Wir stehen immer gleich unter dem Verdacht, wir wollen die DDR schönreden. Dabei tun wir nur etwas, was jeder Mensch gern tut: Dem Erlebten nachhängen. Fast jeder Mensch erinnert sich gerne an seine Kindheit. Meine Kindheit hat in dir DDR stattgefunden. Soll ich mich deshalb nicht gern an meine Kindheit erinnern? Auch deshalb habe ich "Am kürzeren Ende der Sonnenallee" geschrieben, weil ich die Nostalgie mal ernst genommen habe. Es wurde ein sehr liebevolles Buch. Ich habe immer gesagt: Das soll ein Buch werden, bei dem sogar Westler neidisch werden, dass sie nicht in der DDR leben durften. An diesem Anspruch ist ja schon etwas Schiefes. Ein Historiker sollte sich dieses Buch nicht vornehmen.
Sind Micha Kuppisch und Klaus Uhltzscht zwei Seiten einer Medaille?
Es ist etwas anderes. "Helden wie wir" ist aus einem Schmerz und einer Enttäuschung über die NichtAuseinandersetzung mit der DDR-Vergangenheit entstanden. Und mittlerweile bin ich zu der Überzeugung gelangt, dass es diese Auseinandersetzung nicht mehr geben wird. Ich finde das traurig, aber ich sehe keine reale Chance mehr.
Vielleicht braucht es noch mehr Zeit.
Dafür, dass die Auseinandersetzung noch beginnt, sind in mehrerer Hinsicht ungünstige Konstellationen. Erstens hat die DDR zum Glück nicht so ein Erbe hinterlassen wie das Dritte Reich. Die Fragen, die bleiben, sind nicht so zwingend, nicht so monströs, dass man darüber nicht hinweggehen könnte. Man kann darüber hinweggehen, und es ist passiert. Dazu kommt, dass Zeit vergangen ist und dass die Erinnerungen schwinden und trügerisch werden. Der dritte Grund ist, dass es nicht so etwas wie die 68-er geben wird, die das Vergangenheits-Thema aufs Tapet bringt - das demografische Gewicht der Ost-Kinder wiegt nicht so schwer, das ist nur ein Fünftel Deutschlands.
Wolf Biermann hatte sich euphorisch zu den "Helden" geäußert - zu Ihrem neuen Buch wird sich die Freude eher in Grenzen halten.
Ich habe es ihm geschickt und bin sehr gespannt, was er dazu sagt. Es gibt natürlich die Opfer, die Vergessenen, die, über die heute keiner mehr redet. Auch Biermann ist den meisten nur peinlich. Dass der eine Zeit lang mutiger und klüger war als viele andere, will heute keiner mehr wahrhaben. Es ist wahr, dass mein neues Buch auch Anlass für Beifall aus der falschen Ecke geben könnte. Erinnern Sie sich, als zum Beispiel 1994 die Berliner Zeitung die Bundestags-Kandidaten Thierse und Heym zu einer Saaldiskussion eingeladen hatte? Da wurde einer, der als Sozialdemokrat in den fünfziger Jahren im Gefängnis gesessen hatte, von der Masse niedergebrüllt. Das war ekelhaft! Mit solchen Leuten will ich mich nicht verkumpeln. In dieser Hinsicht ist mir nicht wohl. Und wenn Biermann zu mir sagt: Mein lieber Brussig, so geht es nicht, dann würde ich sagen : Okay, wieder was gelernt.
Sie haben kurz nach Erscheinen der "Helden " gesagt: Ich habe Angst, dass meine Wut weniger wird. Ist das passiert?
Ach, diese herumgeisternden Zitate... Es geht nicht um Wut gegen die DDR. Wobei selbst das ein authentischer Prozess ist: Menschen haben Wut, Menschen verlieren ihre Wut. Aber eigentlich geht es darum, dass ich auch als Kritiker der Bundesrepublik angetreten bin. Und was ich dann erlebt habe, war Erfolg. Wo ich in den letzten Jahren nicht überall zum Essen eingeladen war, wem ich nicht alles die Hand geschüttelt habe und wer mir nicht alles gesagt hat, dass ich wichtig bin - da noch den Kopf oben zu behalten und sich nicht erdrücken zu lassen ist schwer. Die Gefahr, korrumpiert zu werden, gibt es schon. Ich verstehe mittlerweile, wie das bei den DDR-Autoren gewesen sein könnte. Nichts Menschliches ist mir fremd.
Macht es Sie wütend, dass 50 Prozent der Brandenburger und 40 Prozent der Thüringer nicht wählen gehen?
Nein, auf wen soll es mich wütend machen? Ich bin selber ein paar Jahre nicht wählen gegangen. Ich war gleichgültig gegenüber dieser implantierten Politik und wollte Protest dagegen ausdrücken, dass die Bundesrepublik nicht die Größe hatte, im Zuge der Vereinigung über eine moderne Demokratie nachzudenken und ihr Staatswesen zu reformieren. Nein, ich finde es gar nicht so schlecht, wenn die Politik so wenig Einfluss auf den Alltag von Menschen hat, dass sich Menschen nicht mehr für Politik interessieren. Mittlerweile gehe ich wieder wählen. Bei der letzten Bundestagwahl war ich wählen, weil ich es wichtig fand, dass Kohl wegkommt. Aber das war noch kein Bekenntnis zur parlamentarischen Dernokratie, so wie ich die vorfinde. Über all diese Dinge ist '89 gesprochen worden - aber danach nicht mehr.
Wut ist auch eine Kraft, ein Motor, etwas, das die Arbeit antreibt. Was ersetzt die Wut, wenn die weniger wird?
Das mit der Wut scheint Sie schwer beeindruckt zu haben. Ich liebe diesen Beruf. Ich bin gerne Schriftsteller. Ich schreibe total gerne. Ein Romancier hat eine Fragestellung, und die arbeitet er mit seinen Mitteln ab. Ich finde immer wieder, dass der Roman eine tolle Form ist, der Philosophie ebenbürtig. Man kann mit einem Roman Dinge rauskriegen, die man sonst nicht rauskriegt.
Wie wäre es mit einem Buch, in dem Sie als Kritiker der Bundesrepublik auftreten?
Bestimmt kommt das, da können wir alle ganz gelassen sein. Ich beschäftige mich mit der Gegenwart, arbeite seit zwei Jahren mit Edgar Reitz an neuen "Heimat"-Folgen, habe ein Theaterstück geschrieben, das erst in den letzten Wochen entstanden ist, ein Gegenwartsstück. Natürlich werde ich auch mal einen Gegenwartsroman schreiben. Ob der dann ein Knüller wird, auf den alle gewartet haben, weiß ich natürlich jetzt noch nicht. Es gibt eine ganze Reihe von Autoren, die haben so um die 30 ein Buch rausgeknallt, und das war es dann. Die haben sich literarisch weiterentwickelt, aber die haben den Erfolg nicht wiederholt. Und so ein Schicksal ahne ich auch für mich. Damit kann ich leben. Ich bin kein Bestsellerautor. Ein Bestsellerautor schreibt kalkuliert einen Bestseller nach dem anderen. Ich habe einen Roman geschrieben. Und der ist zufällig ein Bestseller geworden
Könnten Sie ohne zu arbeiten weiterleben, wenn Sie heute keine Zeile mehr veröffentlichen würden?
Es wäre sehr traurig,wenn mir keine Zeile mehr einfiele. Aber ich bin ein ängstlicher Mensch, ich habe mich immer auf den worst case vorbereitet: Statt eines Porsche hab ich eine gute Lebensversicherung.
Wird man auf Erfolg süchtig, wenn man ihn erst einmal erlebt hat?
Wirklich, ich renne dem Erfolg nicht hinterher. Ich werde schon noch früh genug daneben hauen. Als der Erfolg über mich hereinbrach und damit auch nicht wenig Geld, hatte ich erstmal noch die alten Gewohnheiten. Und die waren eben nicht, Geld auszugeben, sondern Geld zusammenzuhalten.
Das heißt?
Ich fahre immer noch Motorrad, nicht Auto. Ich fahre in der Bahn immer noch zweiter Klasse - wobei ich zugebe, dass sich das vielleicht bald ändern wird. Ich höre jetzt langsam auf, Preise zu vergleichen. Wobei ich immer noch die günstigste Telefonverbindung heraussuche.
Wie gehen Sie zur Lesung heute Abend?
So wie ich jetzt bin. Ich glaube, dass ich mit meiner Kleidung auch signalisiere: Ich kann es mir leisten, so herumzulaufen. Ich mach mir keine Gedanken darum. Es gibt natürlich auch irgendwelche Einladungen, wo man im Smoking kommen soll.
Haben Sie einen?
Nein, ich gehe zum Theaterverleih und leihe mir einen - wobei ich da auch den billigsten rausgekriegt habe.
Überhaupt kein Luxus?
Als wir neulich in den USA Urlaub gemacht haben, haben wir uns einen Leihwagen genommen - und das war nicht die letzte Nuckelpinne. Oder die Wohnung: Ich habe noch nie so gut gewohnt wie jetzt.
Gab es Dinge, auf die Sie auch lieber verzichtet hätten?
Das sind Luxusleiden. Ich habe angefangen zu schreiben, weil ich nicht gut reden konnte. Und plötzlich sollte ich live in Talkshows auftreten und auch noch schlagfertig sein und lauter solche grauenhaften Dinge. Da waren plötzlichTalente gefragt, deren Abwesenheit mich zu dem gemacht hat, der ich bin. Oder wenn mit mir Fernsehbeiträge gedreht werden, soll ich immer irgendwelche Faxen machen, mit philosophischem Ausdruck die Mauer entlangschlendern oder seufzend in einem Buch blättern. Na, neuerdings rede ich nur noch, ist doch klar. Wenn ich einen Schriftsteller im Fernsehen sehe, dann will ich ihm nicht beim Spazierengehen zuschauen, sondern ich will wissen, was der denkt und hören, was er zu sagen hat. Erfolg hat auch eine anstrengende Seite.
Sie stehen sogar noch im Telefonbuch.
Ich bin ein neugieriger Mensch und will einfach nur wissen, was los ist. Der Gedanke war: Wer mir etwas sagen oder mich beschimpfen will, der soll nicht durch den Datenschutz daran gehindert werden.
Kennen Sie das Gefühl der Angst noch?
In erster Linie hat mir der Erfolg ein Gefühl der Sicherheit gegeben, sogar der Unangreifbarkeit. Nicht, dass ich es will, aber ich könnte auch auf Symposien und mit dem Schreiben von wahnsinnig gut bezahlten Artikeln überleben. Aber künstlerisch gibt mir der Erfolg nicht die geringste Sicherheit. Wenn ich vor einem leeren Blatt sitze, nützt es mir überhaupt nichts, dass 200000 Bücher verkauft worden sind. Das ist auch ganz gut so. Ich habe aber auch vorher keine Angst gehabt. Als ich an der Filmhochschule anfing, habe ich mir überlegt, dass ich bis zum Ende des Studiums wissen will, ob ich vom Schreiben leben kann. Wenn nicht, hätte ich bei irgendeinem Sender als Dramaturg angefangen.
Sind Sie mittlerweile diplomierter Dramaturg?
Ich hatte keine Zeit, zu Ende zu studieren. Meine Mutter will schon, dass ich abschließe.
Sie haben das neue Buch Ihren Eltern gewidmet.
Na ja, so ein Buch wie "Helden wie wir" darf man niemandem widmen. Ich habe davon meinen Eltern erst erzählt, als es fertig gewesen ist. Ich habe mit allem gerechnet, dass sie mich enterben oder weiß ich was. Aber die haben es wirklich cool gesehen Meine Mutter hat mich am selben Abend, als sie das Manuskript gelesen hat angerufen und gesagt: Ich kann vor Lachen nicht weiterlesen.
Werden Sie am 9. November feiern?
Die Maueröffnung war das glücklichste Ereignis meines Lebens. Am 9. November passierte etwas, was schon längst hätte passieren müssen. Es war ja auch nicht so, dass die Mauer einfach umfiel - der 9. November war ein Ereignis in einer Kette unglaublicher Ereignisse. Das ist vorbei und kommt nie wieder. Ich kriege immer wieder eine Gänsehaut, wenn ich diese Bilder sehe. Das ist auch ein total authentischer Ausdruck in den Gesichtern, diese entfesselte Freude, dieses unschuldige Glück - den konnte Margarethe von Trotta in ihrem "Versprechen" nicht wieder herstellen. Ach ja: Dieses Jahr ist am 9. November die Kinopremiere von" Helden wie wir".
Wenn Sie heute jemanden kennen lernen - interessiert es Sie dann noch, ob er aus dern Osten oder aus dem Westen kommt?
Es interessiert mich nicht besonders, aber irgendwann kommts trotzdem raus. Obwohl - es gibt viele, von denen ich es nicht genau weiß. Mit Ostlern ist durch die gemeinsame Herkunft die Verständigung in manchen Punkten leichter. Im Westen hingegen gibt es Milieus, die ich überhaupt nicht kenne. Wenn einer aus einem adligen Milieu kommt oder Zögling auf einem superteuren Internat war, dann interessiert mich das: Wie lebt der, wie denkt der. Es ist ja nicht so, dass ich nicht wahrnehme, dass der Ostler oft noch Deutscher zweiter Klasse ist. Aber ich arbeite in einem Bereich, wo die Ost-/West-Herkunft kein Kriterium, auch kein unterschwelliges, ist. Darin unterscheide ich mich von vielen Ostlern.
Ihr Kollege Ingo Schulze hat in einem gemeinsamen Interview mit Ihnen einmal gesagt, er wäre gar nicht im Stande, einen Westler zu beschreiben.
Ich könnte auch keine Frau beschreiben.
Klare Antwort. Micha aus der Sonnenallee will unbedingt wissen, wie im Westen geküsst wird. Und Sie?
Auch das habe ich mittlerweile abgearbeitet.
Silke Lambeck (Interviewerin): Herr Brussig, was halten Sie von Nostalgie?, in: Berliner Zeitung vom 6./ 7. November 1999.