Der Schriftsteller Thomas Brussig über die verflossene DDR, die Zusammenarbeit mit Leander Haußmann, über Ehrgeiz, Misserfolge und verkäufliche Literatur
SPIEGEL: Herr Brussig, gleich zwei Spielfilm-Rückblicke auf die DDR sind jetzt nach Ihren Vorlagen entstanden und werden im Herbst in die deutschen Kinos kommen: "Sonnenallee" im Oktober, "Helden wie wir" im November. Sind Sie der Generalbevollmächtigte für Nostalgie zum zehnten Jahrestag des Mauerfalls?
Brussig: Ich mache die Filme ja nicht. "Helden wie wir" ist die Verfilmung meines 1995 erschienenen Romans, und der "Sonnenallee" -Stoff ist von Leander Haußmann, dem Regisseur, stark mitgeprägt worden.
SPIEGEL: Ihre Bescheidenheit in allen Ehren, aber ohne Sie würde es die Filme nicht geben.
Brussig: Ich bin doch nur der Autor.
SPIEGEL: Und am liebsten ein Chronist der untergegangenen DDR?
Brussig: Zu viel der Ehre. In beiden Fällen ist die Geschichte fiktiv. Bei "Helden wie wir" könnte man geradezu von einer Geschichtslüge sprechen: der Mauerfall als Werk eines Einzeltäters. Und auch der "Sonnenallee"-Stoff geht nicht in die eigene Falle: Er versucht nicht zu schildern, wie die DDR war, sondern erzählt, wie sie gern erinnert wird.
SPIEGEL: Ist die DDR so spannend?
Brussig: "Oststoffe interessieren nicht", sagte mir nach der Wende ein Fernsehredakteur. Und als ich "Helden wie wir" schrieb, glaubte ich das fast auch schon: die DDR und Stasi - dafür interessiert sich kein Mensch. Ich war vom Erfolg dieses Buches dann selbst überrascht. Möglich, dass ich wegen dieses Erfolgs später auf offene Ohren gestoßen bin, als ich mit dem "Sonnenallee" - Stoff kam.
SPIEGEL: Was hat sich geändert?
Brussig: Als die DDR existierte, wurde sie ständig an ihrem Selbstverständnis gemessen und tief schürfenden Analysen unterzogen. Jetzt, da es vorbei ist, bemerken wir plötzlich, dass sich die DDR ganz gut anhand ihrer Profanitäten und Lächerlichkeiten erzählen lässt. Die DDR hatte einen Alltag, und sie hatte ein konkretes Interieur, und darin stecken jede Menge guter, bislang vernachlässigter Geschichten. Und komischerweise werden gerade die überall auf der Welt verstanden.
SPIEGEL: Ihr erfolgreicher Roman "Helden wie wir" war nicht Ihr Debüt. Ihr Erstling "Wasserfarben" erschien zunächst unter einem Pseudonym. Eine Art Stiefkind?
Brussig: Ich habe das in der DDR geschrieben und bin mit dem Manuskript zum Aufbau-Verlag gegangen, dem damals wichtigsten Verlagshaus bei uns. Als das Buch dort tatsächlich erschien, für mich ein Traum, gab es die DDR nicht mehr, und niemand wollte noch ein Buch von einem Ostdebütanten lesen.
SPIEGEL: Ihr Erstling ist ein stilles Buch. Hat Sie der Misserfolg beflügelt, bei "Helden wie wir" mehr auf den Putz zu hauen?
Brussig: Der Misserfolg hat meinen Ehrgeiz angestachelt, das stimmt. "Wasserfarben" war nicht so schlecht, dass es diesen Misserfolg verdient hätte. Was die "Wasserfarben" an Aufmerksamkeit zu wenig gekriegt haben, das haben die" Helden wie wir" dann doppelt wieder reingeholt.
SPIEGEL: Nun ist Ihr drittes Buch da: "Am kürzeren Ende der Sonnenallee". Was war zuerst da: die Film- oder die Buchidee?
Brussig: Mir kam die Idee zu diesem Stoff 1992/93. Ich sah das als Film vor mir: die DDR im Stil von Woody Allens "Radio Days", in einem wirklich liebevollen, bekennenden, nostalgischen Film. Aber was nimmt man anstelle des Radios, das bei Allen eine Art Leitmotiv ist? Die Mauer - für mich das DDR-Phänomen schlechthin! Und die Sonnenallee ist eine fünf Kilometer lange Straße in Berlin, quer durch Neukölln - nur die letzten Meter, die sind in Treptow, also im Osten. Ich dachte mir, das wäre der richtige Ort für eine Art Mauerkomödie: das kürzere Ende der Sonnenallee. Ich bin damit zu Leander Haußmann gegangen, und er hatte Lust, das zu machen.
SPIEGEL: Immerhin Haußmanns Debüt als Spielfilmregisseur.
Brussig: Ja, aber Mauerkomödie war nicht so sein Ding. Er hat sich da auf ein paar Episoden spezialisiert, die ihm besonders gefallen haben. So sind während der Arbeit am Drehbuch viele Episoden auf der Strecke geblieben. Mein Verleger sagte: "Mach doch ein Buch daraus!" So konnte ich endlich wieder am Schreibtisch sitzen, ganz allein verantwortlich. Das ist also kein Buch zum Film.
SPIEGEL: Aber es sind, laut Danksagung, Ideen eingeflossen, die während der Drehbucharbeiten kamen. Wie gestaltete sich die Zusammenarbeit mit Haußmann?
Brussig: Ich habe sehr gern mit Leander gearbeitet, weil wir so verschieden sind. Unvergessen ist, wie ich in seiner Bochumer Wohnung am Computer schrieb, während er im Nebenzimmer auf dem Bett lag und sich durch CD-Hören Erinnerungen heraufspülen ließ, die ich dann gleich ins Drehbuch einarbeiten sollte. Aber ich habe Leander auch als echten Leitwolf erlebt. Er hat den "Sonnenallee" -Stoff wirklich geliebt und sich in einem Maße engagiert, wie das keiner für möglich gehalten hätte.
Spiegel: Es gibt noch ein drittes Filmprojekt, an dem Sie mitarbeiten.
Brussig: Ja, eines Tages rief Edgar Reitz an und fragte, ob wir uns treffen können. Allein schon das hat mich stolz gemacht.
Spiegel: Es geht immerhin um die Fortetzung seiner "Heimat" - Serie, um ein ambitioniertes, ehrgeiziges Projekt. Wie arbeiten Sie zusammen?
Brussig: Wir sitzen meistens in München an den Drehbüchern. Am Flughafen holt mich ein Auto ab, dann geht es in Klausur. Ich werde gewissermaßen eingesperrt. Ich kriege zwar gut zu essen, ich darf einmal am Tag auch raus in den Englischen Garten. Aber ansonsten wird nur geschrieben, geredet, gelesen, also wirklich gearbeitet. Und das geht nun seit über zwei Jahren so. Dann trennen wir uns wieder für ein paar Wochen und kommunizieren per Telefon der per E-Mail.
Spiegel: Wie ist Reitz auf Sie gekommen? Sind Sie auch für ihn der Ostexperte?
Brussig: Der Ostexperte ist sicher ein Grund. Wir schreiben über das Deutschland der neunziger Jahre, und da der Osten dazugekommen ist, muss er auch in einer groß angelegten Chronik der Neunziger vorkommen. Dass wir zu verschiedenen Generationen gehören, ist der geringere Grund. Ich denke, dass Edgar Reitz, der 66 ist, mit seinem Feuereifer und seiner geistigen Beweglichkeit zu den jüngsten Filmemachern Deutschlands gehört.
SPIEGEL: Mit welchem Gefühl blicken Sie heute auf die DDR zurück?
Brussig: Sehr präsent ist sie nicht mehr, aber sie beschäftigt mich ständig, und viel mehr, als mir lieb ist. Dabei hat es in den letzten zehn Jahren so viel interessante, geradezu umstürzende Veränderungen gegeben: Es gibt das Intemet, die digitale Revolution, es gibt Kleinanleger, Einschaltquoten, deutsche Soldaten im Krieg und die neue Mitte. Aber im Osten wird immer nur über den Osten geredet, als wäre die Zeit stehen geblieben.
SPIEGEL: Immerhin machen Sie Ihre DDR-Vergangenheit literarisch fruchtbar.
Brussig: Ich werde die Herkunft nicht los und sehe das auch als Chance. Es gibt da die Erfahrung des Bruches. Aber in der Zusammenarbeit mit Edgar Reitz stehe ich auch vor der Aufgabe, mich mit der Bundesrepublik auseinander zu setzen. Gewiss, Filme haben ihre eigenen Gesetze. In der literarischen Arbeit hätte ich wahrscheinlich einen anderen Blickwinkel - vielleicht hätte ich einfach andere Fragen als die Westdeutschen, die in dieses System hineingeboren wurden. Es gibt viele Dinge, die ich an der Bundesrepublik schätzen gelernt habe. Man begegnet hier einer angenehmen Form von Zivilität. Oder auch der Fähigkeit, genießen zu können.
SPIEGEL: Ist mit der DDR-Literatur nach der Wende zu streng umgegangen worden?
Brussig: Die Auseinandersetzung unter den DDR-Intellektuellen um Mitverantwortung und moralisches Versagen blieb leider aus. Das Buch, das beispielhaft die Geschichte der Verblödung erzählt - wie jemand in diese DDR-Ideologie hineingeriet, wieso sich da so gut mitschwimmen ließ und wieso sich die DDR so lange hinschleppen konnte -, ist leider von den DDR-Autoren nicht geschrieben worden. Natürlich hat der Westen auch gern auf den Osten eingeschlagen, um der Auseinandersetzung mit der eigenen verkorksten Lebensweise, mit all der Verlogenheit, dem Zwang zur Verstellung, aus dem Wege zu gehen. Die deutsche Einheit gründet auf einer unseligen Allianz. Es lässt sich benennen, aber nicht ändern.
SPIEGEL: Wird es in diesem Herbst Nostalgiefeiern für die DDR geben?
Brussig: Ich halte es fast für ausgeschlossen, dass es zu einer wirklichen Auseinandersetzung mit der DDR noch einmal kommen wird. Das hätte längst passieren müssen. Und die Jubelfeiern, das kann ich Ihnen garantieren, die wird's geben. Da gibt es genug Ostalgiekreise. Doch die sind längst nicht so politisch, wie sie aussehen. Solche Ostalgiepartys zelebrieren die Vergangenheit genau wie eine Siebziger-Jahre-Party. Die DDR war immer noch harmlos genug, so dass heute mit ihren Symbolen halbwegs unschuldig Party gemacht werden kann.
SPIEGEL: Sie haben gerade in Berlin erstmals aus dem Buch "Am kürzeren Ende der Sonnenallee" gelesen. Reaktionen?
Brussig: Schon bei Drehbuchbesprechungen erlebte ich, dass alles im fröhlichen Erzählen von Geschichten mündete. Auch nach der Buchpremiere kamen alle, aus Ost und West, ins Erzählen. Die herrlichsten Storys von damals. Alle waren entspannt und fröhlich. Ich habe das Gefühl, dass im "Sonnenallee" -Stoff etwas Krampflösendes liegt, das über das Buch hinausgeht: ein Friedensangebot an die DDR-Vergangenheit. Ich wollte ein Buch schreiben, mit dem sowohl Wolf Biermann als auch Karl Eduard von Schnitzler gut leben können.
SPIEGEL: Wie steht es mit der deutschen Gegenwartsliteratur?
Brussig: Die jüngeren deutschen Autoren werden nicht mehr so leicht an die Subventionstöpfe gelassen. Ich habe mich mit einem Kapitel aus "Helden wie wir" um ein Stipendium beworben - und es natürlich nicht gekriegt. Also, ich freue mich über Verkaufserfolge von Kollegen: Es soll sich unter den Lesern herumsprechen, dass sich in der deutschen Gegenwartsliteratur etwas tut. Die Leute haben ja den größten angelsächsischen Schrott gekauft. Auch da gibt es eine Wende, glaube ich. Es entsteht eine lesbare, aber auch gehaltvolle Literatur - also im schönsten Sinne Belletristik. Das wünsche ich mir.
Volker Hage (Interviewer): "Jubelfeiern wird's geben", in: Der Spiegel vom 6. September 1999.