Für Lena, die naive Jeanne d’Arc der Wende, in Thomas Brussigs großem Roman über den Fall der Mauer, leuchtet es aus den Menschen heraus und um die Menschen herum und man glaubt es ihr, weil sie intuitiv eigentlich immer richtig liegt mit ihren Gefühlen und Reaktionen auf das, was da 1989 mit der alten DDR und den in ihr lebenden Menschen geschieht.
Die Physiotherapeutin in ihrer Schwesterntracht ist eigentlich überall dabei: In Karl-Marx-Stadt (heute wieder Chemnitz) hält sie bei den Demos vor den wie gelähmt erscheinenden Vopos flammende Reden und wird nicht verhaftet. Und Lenas großer Bruder, der gar nicht ihr Bruder ist, photographiert mit seiner leisen Leica fast unbemerkt, mit sicherem Blick das, was sich da in den Gesichtern der Menschen abspielt und wird auch nicht verhaftet.
Mit ihrer Band, die mit unerlaubtem Trickbeat vom Durchbruch in der Musikszene der Deutschen Demokratischen Republik träumt, produziert Lena, eher fast aus Versehen und unter Zuhilfenahme der gesamten Stasi-verseuchten Studio-Mannschaft als Chor, ein Lied, das die Charts erobert und zu so etwas wie der geheimen Hymne der Wende wird.
Irgendwann wird Lena zur ständigen Begleiterin von Leo Lattke, dem eitlen Starreporter eines großen westdeutschen Nachrichtenmagazins, der zu spät zum Fall der Mauer gekommen ist, sich im Palasthotel - einem leicht verstaubten ehemaligen Luxus-Funktionärsschuppen - einmietet mit dem Auftrag seines Blattes, die Wende zu beobachten. Er wird das Gefühl nicht los, dass ihn das alles gar nichts angeht, und wird deshalb von schwerer Schreibhemmung geplagt. Lenas großer Bruder wird sein Photograph, der wenigstens sieht und festhält, was geschieht.
Überhaupt das Palasthotel und sein Mikrokosmos. Der Hoteldirektor, Alfred Bunzuweit, dank sicheren Gespürs für das Opportune, von der Partei zu kometenhafter Karriere gelangter ehemaliger Chef einer Autobahnraststätte, von seinen Mitarbeitern hinter vorgehaltener Hand der „Tankwart“ genannt, versucht ebenfalls die Zeichen der Zeit zu erkennen und fällt prompt auf Ernst Schniedel herein.
Der ist gerade 19, aus dem Westen, ein Felix Krull ohne dessen Charme, abgebrochener Wirtschaftsoberschüler, käsiger Albino, permanent Sonnenbrille tragend und ausgestattet mit Visitenkarten, die ihn als Sonderbevollmächtigten des größten Automobilproduzenten Europas, mit Sitz in Wolfburg, ausweisen.
Ernst Schniedel hat die Zeichen der Zeit erkannt und lässt alle seine Gesprächspartner wissen, dass er für einen Weltkonzern eine Volkswirtschaft sondiere. Das tut er auch in der Automobilindustrie der Ex-DDR und lässt dabei den versammelten Vorstand eine halbe Tagesproduktion von Trabbis kreativ zerstören.
Und so weiter und so weiter, ich will hier nicht Brussigs Roman nacherzählen, sondern Sie neugierig machen darauf. Ich versichere Ihnen, alles kommt vor, was die Wende gekennzeichnet hat, von der Euphorie des Mauerfalls bis zum Begrüssungsgeld, von Gysi bis Schalck-Golodkowski, der ganz normale Wahnsinn. Für ganz normale Menschen ist nichts mehr normal und für andere wird das Leben zum ersten Mal normal. Ihre jeweiligen Biographien sind spannend und mit Witz und Ironie erzählt. Ihre Gefühle unglaublich genau beobachtet und beschrieben. Ihre häufig zufällig erscheinenden Begegnungen erzeugen den Eindruck, dass alle mit allen zu tun haben, jeder mit seinem Schicksal und alle zusammen eine Schicksalsgemeinschaft.
Nicht für alle war der „Dammbruch des Glücks“ der Wende ein Glück, viele sind nicht damit fertig geworden. Lena sagt am Schluss „ Das Glück schmeckt fad inzwischen…“ Und Leo Lattke, der arrogante Reporter aus dem Westen, ist, beinahe sympathisch, auf Normalgröße geschrumpft und überwindet seine Schreibhemmung nur dadurch, dass er sich, sehr symbolträchtig, seine eigene Wende produziert. Er lässt die blinde Sabine aus dem Osten, die sich mit ihrer Blindheit fabelhaft arrangiert hatte, operieren und wieder sehend werden. Die aber merkt sehr schnell, dass das, was sie sieht, ihr viel zu bunt ist, sie viel zu sehr aufregt und weigert sich zu sehen. Sie beschränkt sich lieber auf das, was sie vorher hatte. Darüber kann Leo Lattke dann endlich wieder schreiben.
Ich denke, dass Thomas Brussig mit „Wie es leuchtet“ ein ganz großer Wurf gelungen ist. Gerade weil das Buch mit Witz und Ironie geschrieben ist, weil es sich leicht liest, ist es für mich d e r Roman der Wende. Es ist für mich der sehr gelungene Schritt aus der journalistisch-dokumentarischen Form der Auseinandersetzung mit dem Thema in die fiktionale Form. Günter Grass hat seine „Blechtrommel“ 1959 veröffentlicht, 15 Jahre nach Kriegsende. Brussigs Roman ist pünktlich 15 Jahre nach der Wende erschienen. Wahrscheinlich braucht es einfach so lange. Brussigs Romanfiguren sind so lebendig wie die Charaktere in der „Blechtrommel“. Man kann also hoffen, dass Brussig sie - wie Grass es getan hat - weiter leben lässt und uns ihre Geschichten erzählt.
von Peter Wien
Besprechung von Matthias Mattusek "DER SPIEGEL" 43/2004 vom 18.10.2004, Seite 192 Der Balzac vom Prenzlberg