Es gibt kaum einen deutschen Film dessen erste halbe Stunde so ambitioniert ist wie die der Verfilmung von Thomas Brussigs Erfolgsroman "Helden wie wir". Was für ein Einfallsreichtum Der junge Regisseur Sebastian Peterson legt sein Spielfilmdebüt als eine Farce an, die dem Buch nur bedingt folgt - und das ist auch bitter notwendig. Brussigs Roman besteht aus den Tonbandprotokollen eines Interviews, in dem nur der Held der Geschichte, Klaus Uhltzscht, zu Wort kommt. So entsteht ein äußerer Monolog, der aber an Assoziationsreichtum und Sprunghaftigkeit seinen inneren Vorbildern in nichts nachsteht. Trotz des großen Interesses seitens der Filmindustrie konnte man sich nur schwer vorstellen, wie dieser Stoff seinen Weg auf die Leinwand finden sollte.
Nun ist er da und durchbricht gleich alle Regeln der hiesigen Kinoindustrie, denn der Film startet an einem Dienstag. Das muss jedoch so sein, damit er nur ja pünktlich zum zehnten Jahrestag des Mauerfalls auf die Leinwand kommt. Denn alles, was wir bisher über die Zeitenwende von 1989 wussten, war ja falsch. Klaus Uhltzscht war es, der die Mauer sprengte - mit der Gewalt seines überdimensionierten Gemächts, das durch die unvorhersehbare Nebenwirkung einer Bluttransfusion derart vergrößert worden ist, dass die Grenzwächter auf der Bornholmer Brücke fassungslos den Schlagbaum heben, als Klaus Uhltzscht die Hosen fallen lässt. "Es passierte so viel in diesen, Tagen, was einfach nicht zu glauben war, und ich war mir sicher, dass ihm und den übrigen Grenzern das den Rest geben würde." So erinnert sich Uhltzscht im Buch an den entscheidenden Moment, und in der burlesken Drastik der Szene hat Brussig ein kongeniales Bild der chaotischen Zustände in der DDR an jenem 9. November gezeichnet.
Dieses Bild kann man nicht filmen - nicht nur aus Gründen des Jugendschutzes. Und so wurde über einen beträchtlichen Bildausschnitt zwischen den Beinen von Daniel Borgwardt, dem Darsteller des Klaus, ein flirrendes Karomuster gelegt, gleich zu Anfang des Films. In Schwarzweiß beginnt er, in jenem vergröberten Schwarzweiß, das uns ein Authentizitätssignal geben soll (Obacht, Dokumentation!). Da klopfen noch einmal die West-Berliner den einrollenden Trabis auf die Dächer, Menschen umarmen sich, weinen, lachen und zwischen allen schreitet Klaus Uhltzscht, unten ohne, winkend, und über allem liegt Louis Armstrongs Wonderful World"- jenes Lied, das in "Good Morning, Vietnam" den Soundtrack zu den langen Kameraschwenks über die Schlachtfelder abgab. Bei Peterson ist es wieder auf die Schnulze reduziert.
Aber das ist auch zunächst der einzige Schwachpunkt. Denn dann springt der Film zum Buchbeginn und schildert die Jugend seines Protagonisten: Klaus im sozialistischen Wunderland. Da laufen im Fernsehen Zeichentrickfilme, die die Aufbauleistungen beim Plattenbau feiern, und wenig später kann man aus dem Wohnzimmerfenster der Familie Uhltzscht dieselben Szenen beobachten: In niedlicher Animationstechnik schieben sich Bauelemente vertikal und horizontal durchs Bild. Die DDR, so zeigt uns diese Bildmontage, war ein großes Potemkinsches Dorf. Petersons Film gewinnt durch die Einbeziehung von dokumentarischem Material enorm, weil es die Fiktion eher noch stärker macht. Als die Bauarbeiten beendet sind, steht gegenüber der uhltzschtschen Wohnung keines der groß propagierten Mehrfamilienhäuser, sondern die Stasi-Zentrale. Klaus wächst auf und lernt den Pioniergruß, in der Schule sitzt er im FDJ-Hemd. Es ist eine ganz normale Kindheit in der DDR, und Adrian Heidenreich spielt den Zehnjährigen mit einem unschuldigen Charme, der besser als im Buch das Abgründige dieser Normalität zeigt, die nach dem Schulabschluss direkt in den Stasi-Dienst führen wird, wo schon der Vater beschäftigt ist. Doch was im Buch grandios geschildert wird, die Perfidie einer Erziehung, an der sich der Vater nur durch Überwachung und die Mutter vor allem durch fortwährende hygienische Ermahnungen beteiligen, das kommt im Film kaum vor. Kirsten Block und Udo Kroschwald sind als Eltern völlig überflüssig, denn mit dem inhaltlichen Schwerpunkt, den Brussig im Roman auf ihre Charaktere setzte, bricht auf der Leinwand die Doppelbödigkeit seines Schelmenstücks weg: Es ist nicht mehr die Kombination aus Groß- und Kleinkollektiv (Staat und Familie), die Klaus den Weg ins Raster ebnet, sondern nur noch die sozialistische Gesellschaft, in die sich die Eltern eingefügt haben. Im Buch bilden sie noch die Basis der Verziehung ihres Sohnes.
Brussig hat als Drehbuchmitautor viele Zugeständnisse gemacht. Vor allem führt er eine Jugendliebe ein, die Klaus dauerhaft fasziniert. Diese Yvonne Anders wird gespielt von Xenia Snagowski, wie Borgwardt und Heidenreich tritt sie erstmals in einem Film auf. Yvonne ist die Tochter eines Nonkonformisten, den wiederum ein alter Hase gibt: Gojko Mitic. Der war in der DDR das, wofür Pierre Brice im Westen stand: Als Winnetou-Darsteller bot er das Idealbild des edlen Wilden, der vernünftiger war, als alle Weißen. Mit diesem Sauber-lmage kokettiert Peterson bei seiner Besetzung, und die ostdeutschen Zuschauer werden es ihm danken. Doch der augenzwinkernde Effekt geht wieder auf Kosten der Vorlage. Im Roman ist (der erwachsene) Klaus von Angst geplagt, als er Yvonne begegnet, sie könne die Tochter eines Dissidenten sein. Im Film ist sie es, doch Klaus bekommt es erst am Ende mit und schlägt sich sofort auf die Seite der Verfolgten. Das geht alles etwas arg glatt.
Doch wie gesagt, die erste halbe Stunde ist zauberhaft. Da filmt Peter Przybylski das gemeinsame Spiel von Klaus und Yvonne mit der wackelnden Kamera eines Amateurfotografen. Ruckartig bewegen sich die Bilder, und sie sind unscharf wie auf alten Hobbyfilmen. Die Farce wird gegenüber dem Roman bisweilen sogar noch gesteigert, so im grotesken Höhepunkt , wenn Peterson die kindliche Vorstellung vom heldenhaften Ernst Thälmann inszeniert, den seine Genossen "Teddy" nannten. Da tappst plötzlich ein gewaltiger Teddybär im KZ-Anzug durch ein Nazilager, und dann kommt Adolf Hennecke, der wackere Bergmann mit den unzähligen Rekordschichten, und stemmt mit seinem Presslufthammer die Gefängniswand auf. Das ist nicht nur umwerfend komisch, sondern setzt auch die kindliche Vorstellungskraft überzeugend ins Bild. Oder wenn die Lehrerin, gespielt von der leider völlig unterforderten Renate Krößner, einer weiteren Filmlegende der DDR, ihre Schüler auffordert, sich einmal die Zukunft auszumalen, und ihnen zusammen mit einer weißen Landkarte lauter rote Stifte in die Hand drückt. Am Ende werden Klaus und Yvonne sich dann in Holland treffen, inmitten eines riesigen Tulpenfeldes, und die Welt wird wirklich rot geworden sein. So erfüllen sich Träume.
Der Rest jedoch ist Schweigen. Kaum ist Klaus erwachsen, sehen wir einen Film, der weder ästhetisch noch inhaltlich über das herausgeht, was im Fernsehen als Komödie, verkauft wird. "Helden wie wir" wird zwischen allen Stühlen landen: Im Osten wird man die nostalgische Verbrämung vermissen, die Leander Haußmanns "Sonnenallee" so wohlig harmlos anzusehen machte, und im Westen wird das Publikum viele feinsinnige Anspielungen der ersten halben Stunde nicht verstehen - und damit bricht der Teil weg, der den Film zu einem spannenden Experiment macht.
Andreas Platthaus: Teddybär, geh du voran, in: FAZ vom 9. November 1999, S. 59.