Als um zwölf Uhr mittags der Grundstein für die Berliner Mauer gelegt wird, strahlt die Sonne vom wolkenlosen Himmel. DDR-Fahnen flattern im Wind; von fern ertönt der Lärm der Baufahrzeuge. Trotz der Hitze ist die Stimmung gelöst. Die Kassette, die unter dem Blitzlichtgewitter der Kameras eingemauert wird, enthält einige DDR-Groschen, drei westliche Tageszeitungen sowie ein Drehbuch.
Was hier in den nächsten Wochen entstehen wird, ist eine Filmkulisse, Schauplatz ist eine Baustelle an der Marlene-Dietrich-Allee in Babelsberg. Vorgestellt wird ein Film mit dem Arbeitstitel "Sonnenallee", von dem noch nicht eine Szene abgedreht worden ist, was aber niemanden davon abhält, schon einmal ein Pressegespräch abzuhalten. "Die Mauer wird wieder aufgebaut", verhieß die Einladung, "mit Sperren und Wachtürmen und allen authentischen Details." Bis Ende Oktober, wenn die Dreharbeiten abgeschlossen sein werden, wird die Szenerie somit jene Aura konkreter Geschichtserfahrung verströmen, die die Besucher der Mauergedenkstätte in der Bernauer Straße so schmerzlich vermissen.
Was vordergründig so aussieht, als blicke man in Babelsberg in die Vergangenheit, ist in Wahrheit doch der Zukunft zugewandt. Friedrich-Carl Wachs, Geschäftsführer der Studios Babelsberg, feiert die Bauten als "größte Investition in der Außenkulisse" seit der Wiedervereinigung. Der entstehende Stahlgerüstbau, der sich mit wechselnden Fassaden einkleiden läßt, soll laut Wachs bald jene Dreharbeiten unter freiem Himmel ermöglichen, die sich in den Straßen Berlins aufgrund des "Kompetenzwirrwarrs" zwischen den Bezirken so schwierig gestalten. Das erste Projekt ist der nach einer einst geteilten Straße zwischen Neukölln und Treptow benannte Film "Sonnenallee", produziert von Claus Boje und Detlev Buck.
Leander Haußmann, Intendant des Schauspielhauses Bochum, debütiert mit "Sonnenallee" als Spielfilmregisseur. Anhand der fiktiven Liebesgeschichte zweier Jugendlicher im Ostteil Berlins möchte er das Alltagsleben in der DDR der siebziger Jahre samt "verbotener Songs" und "eigenartiger Tänze" skizzieren: über allem soll die Frage stehen: "Wie haben wir damals überlebt?" Künftige Generationen, so der Regisseur in seiner launigen Ansprache, könnten den Film dann womöglich als "Ratgeber" für künftige "Überlebensstrategien" heranziehen. Thomas Brussig, der gemeinsam mit Haußmann das Drehbuch verfaßte, hält dies freilich für ziemlichen Unsinn. Er kündigt lediglich einen "schönen, warmen Film über die DDR" an, nicht "verkniffen", sondern "witzig" und "sentimental".
Vor drei Jahren hatte Brussig, von dem es niemand erwartet hatte, mit "Helden wie wir" so etwas wie den ultimativen Roman zur Wende abgeliefert, dessen Held Klaus Uhltzscht am Ende die Mauer zum Einsturz brachte. Nun beobachtet der junge Schriftsteller und einstige Dramaturgiestudent an der Babelsberger Filmhochschule, wie das Bauwerk von neuem aus dem Boden wächst. "Helden wie wir" hatte er damals vor allem aus Wut geschrieben - aus Wut darüber, daß eine ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Leben in der DDR bis dahin nicht stattgefunden hatte. Dafür, so Brussig, sei es inzwischen allerdings zu spät.
Der Ansatz von "Sonnenallee" daher ist ein ganz anderer: Nicht Aufarbeitung, Verklärung ist diesmal das Ziel. Zur Nostalgie, die er früher als "Mittel zur Abwehr der Auseinandersetzung" abgelehnt habe, bekennt sich Brussig jetzt offen; eigentlich, so der Autor, werde der Film den Arbeiter-und-Bauern-Staat gar "verherrlichen" - in einer Weise, "daß der Westen neidisch wird, daß er nicht in der DDR leben durfte". Gleichzeitig wolle man aber auch die Zuschauer aus Ost und West einander näherbringen und einen Beitrag zur Versöhnung leisten, "über dem sich Wolf Biermann und Karl-Eduard von Schnitzler die Hand reichen könnten".
Der Film "Sonnenallee", in dem unter anderem Katharina Thalbach, Henry Hübchen und Buck mitspielen, wird auch deshalb viel Aufmerksamkeit auf sich ziehen, weil die Liste von Filmen, die sich mit dem Leben in der DDR befassen, bis jetzt bestürzend kurz ist. Die Idee für das Projekt hatte Brussig schon 1991 - stets aber war er von den Produzenten mit der Begründung zurückgewiesen worden: "Ost-Stoffe laufen nicht." Mit "Helden wie wir" gelang es ihm, dieses Argument eindrucksvoll zu widerlegen und auch den Weg für "Sonnenallee" freizumachen.
Mit der Last, daß das Publikum von ihnen so etwas wie den ultimativen DDR-Film erwarten dürfte, werden die Filmemacher leben müssen, zumal sie dies durch ihre Terminplanung herausgefordert haben: Zwar war man so pietätvoll, den Jahrestag des Mauerbaus verstreichen zu lassen und den Grundstein für die Film-Mauer erst eine Woche danach zu legen, der Kinostart aber ist für den 7. Oktober 1999 angekündigt. An diesem Tag hätte die DDR ihren fünfzigsten Geburtstag gefeiert.
Jörg Thomann: Der neidische Westen, in: FAZ, Nr. 195 vom Montag, 24. August 1998, S. 42.