Nur die Sonne scheint verkehrt, die Sonne am tiefblauen Himmel über den Babelsberger Studios. Sie geht im Westen auf, im Osten unter. West, Ost, auf der Mauer, auf der Lauer liegt der Regisseur Leander Haußmann, ihm liegt das Licht auf der falschen Gesichtshälfte. Die Sonne bringt es an den Tag, daß die DDR in Babelsberg im Westen, auf der falschen Mauerseite liegt. Haußmann stemmt die Arme gegen den Schlagbaum der DDR, Übergang Sonnenallee. Die Hamburger-Reklame hat er hinter sich, und frohgemut blickt er zurück, nach vorn in die trostlose Baufälligkeit der DDR vor seinen Augen, original nachgebaut mit gebrochenen FahrbahnBetonplatten, abgefallenen Putzplacken, Löwenzahn in den Mauerritzen und einem qualmenden Mosquitsch am Bordstein.

 

Die DDR, sagt Haußmann, seine DDR sei zwar tot, aber noch warm. Das Bild von der DDR, im Rahmen der Mauer: Man muß das festhalten, sagt er, was heute ja keiner kapiert, "diese Trottel haben alles weggerissen", die Mauer und die ganze Komik der DDR.

Die Kindheit in der DDR ist golden, nicht grau gewesen, darin ist er mit dem Drehbuchautor Thomas Brussig d'accord. Lachhafte Möbel aus Plaste, Parteispruch-Kalauer, Feten und Diskussionen die Menge, und die MfS-Typen, die da nicht mehr nachkamen. Surrealistisch die DDR-Schlagerparade in zwei Teilen, deutsch und international. Brussig, Haußmann, sie trugen ihren selbstkreierten Klamottentrend durch die DDR, sie hatten ihre eigene Art lässig zu sein, und sie hatten ihre Sprache: "Urst" (heißt: sehr, total) zum Beispiel oder "Scheffig". Alles weg wie die Mauer. Kindheit, DDR, der Alltag, ihre Typen, was sie kultig fanden, alles weg.

Na sicher sind die Dialoge, die sie für "Sonnenallee" schrieben, sagt Haußmann über die Schranke, sicher ist das autobiographisch. Das Leben hinter der Mauer verbrachten sie als Leben vor der Mauer. Als sie dann umfiel - so dramatisch wars dann auch wieder nicht war (!).

Scharf auf Jeans gewesen? Geht so, andere Sachen waren gefragter. Bloß diese Sonnenallee, die mit dreistelligen Hausnummern durch die Mauer bei ihnen in die DDR hineinlief – "wir waren nicht so geil drauf zu reisen", sagt Brussig, aber die Sonnenallee ganz von Anfang an, sie wären gern mal ganz nach vorn durchgelaufen. Das einzig wirklich Interessante am Westen war was anderes, sie lasen es sich gegenseitig aus den rot erblühten, mit Schwefelpaste überschmierten Pustel-Gesichtern. Der Westen besaß dieses Pickelwasser.

Detlev Buck, eigentlich Filmregisseur, jetzt Produzent von "Sonnenallee", wollte auch mitspielen. Er sieht echt aus in der schulterklappenbesternten Abschnittsbevollmächtigten-Uniform der DDR. Er legt die Hände hinter den Rücken. Er knickt den Oberkörper nach vorn, er klappt mit den Hacken und sieht nach einer Maßnahme aus. "Den Blick kann man dann irgendwann", sagt Buck. Ost und West, Wessi Buck, Ossi Haußmann, die beiden stehen sich an der verdrehten Babelsberger Republikgrenze gegenüber. Im strahlenden Sonnenlicht von Ost steht Haußmann leuchtend da, sein Gesicht wolkenlos heiter, ein Schatten vom Dreitagebart. Vis a vis Wessi Buck, den die strammen Rocknähte in die linientreue Haltung kneifen, und abseits, verlegen, ganz in Schwarz der Autor Thomas Brussig. Er steht neben der Früchteladen-Kulisse mit den angerosteten Konservendosen im Schaufenster. Weißkohl, Kartoffeln und Möhren in der Auslage davor. Im Hintergrund, die Straße hinauf, liegt ein Haufen Braunkohle im Rinnstein, und Brussig, das einzig Authentische in der Kulissen-DDR, sieht darin wie ein geborener Wessi aus. Haußmann, immer noch am Schlagbaum, legt Wert darauf, Brussig, sich selber, den Film von allen DDR-Intellektuellen abzugrenzen. Die säßen in ihren Zimmern und redeten: Man könnte einen ironischen Aufsatz schreiben. Manchmal verfassen sie dann einen Artikel.

Obwohl ihn niemand haben wollte und obwohl es ein Elend war, einen Geldgeber, einen koproduzierenden Sender aufzutreiben - "der Film hat gefehlt", sagt Haußmann, "wir mußten nur eine Story dafür haben". Die schrieb Brussig, eine Geschichte über "ein versunkenes Land, das neu erfunden wird": "Sonnenallee", 70er Jahre, DDR. "Unterm Strich", sagt Haußmann, "ist es auch eine Rache."

"Ich war nicht besonders dafür, aber auch nicht besonders dagegen", läßt Brussig seine 17jährige Hauptfigur Micha Ehrenreich sagen. Er meint die Mauer. Micha weiß, warum ein verbotener Song den Abschnittsbevollmächtigten zu Fall brachte. Wie der dann Amok lief und wie ein Doppelalbum der Stones seinem Kumpel Wuschel das Leben rettete. Was Äpfel und Lichees mit dem kalten Krieg zu tun hatten, warum die Arbeiterklasse keine Vorhaut haben darf und wie ein Stromausfall im Grenzgebiet Licht in die Dunkelheit brachte.

Mit Brussigs erstem Drehbuch auf dem Tisch überredete Haußmann Katharina Thalbach, Henry Hübchen, Ignaz Kirchner - eine ganze Corona aus der Elite deutscher Theaterschauspieler zu seiner ersten Filmregie. Aber die fünf aus der Jugend-Clique, die in Babelsberg auf dem Eck-Spielplatz im Kletterpilz sitzen - es sind Nobodys, Debütanten, es sind welche, die nach Brussig und Haußmann kamen - Wendekinder, die beim Casting noch die alte DDR im Gesicht hatten.

Die Kamera steht auf Position, Haußmann, im Sonnenschein, befiehlt mehr Regen auf die DDR. Es gießt aus Feuerwehrschläuchen, Brussig bringt sich ins Trockene, und Wessi Buck, der Abschnittsbevollmächtigte, sieht hinüber und überlegt, was die sich da unterm weißgepunkteten Pilzschirm zusammenrotten und ob fünf Mann im Gestell nicht gegen irgendeine Sicherheitsvorschrift verstoßen könnte.


Thomas Delekat: Die Sonne geht im Westen auf, in: Die Welt vom Samstag, 21. November 1998, S. B7.